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Anna Burns – Milkman

©Faber & Faber

©Faber & Faber

ungekürzte Lesung

Sprecherin: Brid Brennan

14:11 Stunden

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Interview mit Anna Burns *klick*

Zum Inhalt

In einer Stadt ohne Namen irgendwo in Nordirland kann das Leben sehr schnell sehr gefährlich sein. Die junge namenlose Ich-Erzählerin, mittlere Schwester, hat einen Vielleicht-Freund (maybe-boyfriend), steht unter Druck der Mutter jemanden von der richtigen Straßenseite zu heiraten und eine ordentliches Leben zu führen.

Eines Tages begegnet sie dem Milchmann, von dem sie sich zunehmend verfolgt und unter Druck gesetzt fühlt. Als ihr “erster Schwager” (first brother-in-law) die beiden zusammen sieht, kommen Gerüchte auf. Dabei hat sie immer alles getan, um unauffällig und uninteressant zu sein.

Es geht um Klatsch, Tratsch, Intrigen und wie schnell man vermeintlich auf der falschen Seite stehen kann.

Zur Autorin (von Wikipedia)

Anna Burns wurde 1962 in Belfast geboren und wuchs in dem überwiegend katholisch und irisch-nationalistisch geprägten Ardoyne-Distrikt, einem Arbeiterviertel im Norden der nordirischen Hauptstadt, auf Ihre dortigen Erfahrungen flossen in ihren 2001 erschienenen ersten Roman No Bones ein, der das Aufwachsen eines Mädchens in Belfast während der „Troubles“ zum Thema hat. 1987 zog Burns nach London, um die Universität zu besuchen. Mit Mitte 30 begann sie zu schreiben Burns lebt in Notting Hill (London) bzw. im südenglischen East Sussex. Burns’ dritter, 2014 geschriebener Roman Milkman wurde 2018 nach einmütigem Votum der Jury mit dem 50. Man Booker Preis ausgezeichnet, womit der Preis erstmals in seiner Geschichte an einen Autor ging, der aus Nordirland stammt.

Zur Sprecherin (von Wikipedia)

Briod Brennan debütierte als Schauspielerin in Dublin, wo sie am Abbey Theatre und am Gate Theatre auftrat. Ihre erste Filmrolle spielte sie an der Seite von Nigel Terry und Helen Mirren im Fantasyfilm Excalibur aus dem Jahr 1981. Im irischen Filmdrama Anne Devlin (1984) übernahm sie die Titelrolle.

Brennan spielte in den Jahren 1991 und 1992 im Theaterstück Lughnasa – Zeit des Tanzes von Brian Friel. Für diese Rolle erhielt sie im Jahr 1992 den Tony Award. In der Verfilmung des Theaterstücks Tanz in die Freiheit (1998) spielte sie neben Meryl Streep und gewann im Jahr 1999 für diese Rolle den Irish Film and Television Award. Die Rolle im Theaterstück The Little Foxes, welches im Londoner Theater Donmar Warehouse aufgeführt wurde, brachte ihr im Jahr 2002 eine Nominierung für den Laurence Olivier Award.

Meine Meinung

At this time, in this place, when it came to the political problems, which included bombs and guns and death and maiming, ordinary people said ‘their side did it’ or ‘our side did it’, or ‘their religion did it’ or ‘our religion did it’ or ‘they did it’ or ‘we did it’, when what was really meant was ‘defenders-of-the-state did it’ or ‘renouncers-of-the-state did it’ or ‘the state did it’.

Zu dieser Zeit, an diesem Ort, wenn es um politische Probleme ging, zu denen auch Bomben und Gewehre und Tod und Verstümmelung gehörten, sagten gewöhnliche Leute „ihre Seite war‘s“ oder „unsere Seite war’s“, oder „ihre Religion war’s“ oder „unsere Religion war’s“ oder „sie waren’s“ oder „wir waren’s“, während sie wirklich meinten „die Verteidiger des Staats waren‘s“ oder „die Staatabkehrer waren’s“.

Anna Burns wurde für ihren Erstling „Milkman“ mit dem Man Booker Preis ausgezeichnet, nicht nur zu ihrer eigenen Überraschung. Der Roman spielt Ende der 1970er Jahre in Nordirland, während des Nordirlandkonflikts der auf Englisch im schönsten Understatement „The Troubles“ genannt wird. Angesichts der aktuellen Situation in Großbritannien könnte es auch ein deutliches Zeichen an die britische Regierung sein, genau zu überlegen, ob bzw. wie ein Brexit an der irischen Grenze gestaltet werden sollte.

Eine achtzehnjährige Ich-Erzählerin, die in Schachtelsätze und authentisch wirkender Umgangssprache aus ihrem Leben erzählt, Figuren* und Orte ohne Namen, machen den Einstieg in das Buch nicht leicht. Nach wenigen Kapiteln zog mich „Milkman“ in seinen Bann, vermutlich in einen Arbeitervorort von Belfast, den sie selbst so beschreibt:

All this made sense within the context of our intricately coiled, overly secretive, hyper-gossipy, puritanical yet indecent, totalitarian district.

(All das war logisch innerhalb unserer engen, allzu verschlossenen/geheimniskrämerischen, hyper-tratschenden, sowohl puritanischen als auch unanständigen, totalitären Bezirks.)

Sie ist eher eine Außenseiterin, die sich am liebsten aus allem heraushalten würde. So liest sie gerne Bücher aus dem 18. und 19. Jahrhundert, die überhaupt nichts mit ihrer aktuellen Lebenssituation zu tun haben, gerne auch wenn sie zu Fuß unterwegs nach Hause oder zur Arbeit ist. Doch auch das macht sie zur Zielscheibe.

‘Hold on a minute,’ I said. ‘Are you saying it’s okay for him to go around with Semtex but not okay for me to read Jane Eyre in public?’ (“Warte mal”, sagte ich. “Hast Du gerade gesagt, dass es in Ordnung ist, wenn er mit Semtex herumläuft, aber nicht in Ordnung, wenn ich in der Öffentlichkeit Jane Eyre lese?“)

Anna Burns zeigt die innersten Gedanken und Gefühle der 18-Jährigen und gab mir so einen Einblick in eine – zum Glück – völlig fremdes Leben. Alles, aber wirklich alles konnte damals zu Problemen führen. Welches Programm man im Fernstehen schaute, welche Namen das Neugeborene bekommt, welche Musik man hört und ob man mit Kollegen spricht, die „von der anderen Seite“ sind. Schnell wird klar, dass Vieles nicht beim Namen genannt werden durfte und so spricht die Hauptfigur auch nicht von IRA (Renouncers=Abschwörer/Verleugner) und der britischen Regierung bzw. deren Anhängern, sondern umschreibt alles. Steht man selbst zum Land „auf der anderen Seite der Grenze“ oder zu jenem „auf der anderen Seite des Wassers“?

Alles scheint noch erträglich, bis ein hochrangiges Mitglied der „Renouncers“ anfängt, die 18-Jährige zu stalken, wie man es heute nennen würde. Schnell machen Gerüchte die Runde, dass sie mit dem 41-jährigen und verheirateten Mann eine Affäre habe, gegen die sie sich so wenig zu wehren weiß, wie gegen „Milkman“ selbst. Sie droht innerhalb ihrer Wohngegend zu Geächteten zu werden. Wem kann man in so einer Umgebung vertrauen – ohne sich selbst oder die andere Person zu gefährden?

„Milkman“ gehört zu jenen, die auch in ihrem eigenen Bezirk Angst und Schrecken verbreiten, die die Spirale der Gewalt immer enger werden lassen. Anna Burns zeigt sehr anschaulich, welche Auswirkung das Leben in einem solchen Vorort auf eine heranwachsende junge Frau haben konnte, die zusätzlich noch von “Milkman” unter immer größeren Druck gesetzt wird.

Es werden nicht die großen Terroranschläge geschildert, die spektakulären Ereignisse jener Zeit, sondern das alltägliche Leben in Angst. Angst vor den eigenen Leuten und vor der anderen Seite, Angst davor Anders und damit auffällig zu sein und auch Angst, dazuzugehören und deshalb zu sterben. Während erwartet wurde, dass mindestens der älteste Sohn sich der IRA bzw. dem britischen Militär anschließt, sollten junge Frauen so schnell wie möglich heiraten. Eine eigene Meinung oder besondere Interessen sollten sie nach Möglichkeit nicht haben und es war scheinbar üblich, gezielt nicht die große Liebe zu heiraten. (Die Gründe dafür möchte ich hier nicht verraten.)

Eines der treffendes Zitate kann ich momentan leider nicht finden. In diesem Satz wird die Ausweglosigkeit der damaligen Gewaltspirale treffend auf den Punkt gebracht. Es sei darum gegangen, den Anderen Leid zuzufügen, weil sie der eigenen Seite Leid zugefügt hatten, Vergeltung immer und immer wieder.

Trotz der beklemmenden Lebensumstände verliert die Ich-Erzählerin nicht ihren Humor, der mich öfter als erwartet laut lachen ließ.

Die Sprecherin Brid Brennan ließ mich mit der 18-Jährigen selbst zuhören, in ihrer schnoddrigen, einfachen Sprache und machte „Milkman“ so zu einem noch intensiveren Erlebnis.

Fazit

Milkman ist ein sperriges Buch, teilweise ein Psychothriller, dessen besonderer Schrecken für mich darin liegt, dass es hier um das wirkliche Leben in Nordirland vor wenigen Jahrzehnten geht und es nicht eine düstere Dystopie ist. Ein Leben auf dem Drahtseil, umgeben von selbsternannten und strengen Sittenwächtern. Als Hörbuch wirkte es dank Brid Brennans perfekt passendem Vortrag noch intensiver. Hoffentlich wird es bald übersetzt und auch hier viele Leser finden.

*longest friend, maybe-boyfriend, wee sisters, Somebody McSomebody usw.

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