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Lesung Rafik Schami, 30.01.2020, Schauspielhaus Frankfurt

© Hanser Literaturverlage

Die Lesung fand ausnahmsweise nicht im Literaturhaus statt, dort wären nicht genügend Plätze gewesen, sondern im ausverkauften Schauspielhaus. Zu Beginn stellte Hauke Hückstädt, Leiter des Literaturhauses, sehr enthusiastisch Rafik Schami und sein neustes Buch Die geheime Mission des Kardinals vor, in  dem man die Kräfte des Herzens, viel über Religion und auch den Schmerz des Exilanten finden könne. In seinen Augen gibt es wenige größere Friedensstifter als Rafik Schami.

Dann betrat Rafik Schami für die nächsten knapp zwei Stunden die Bühne und verlieh seiner Begeisterung über die Betreuung durch das Literaturhaus und das ausverkaufte Schauspielhaus Ausdruck. Es sei für ihn eine große Ehre und er freue sich über ein so großes Publikum während es für sein Heimatland eine traurige Zeit sei. Er gehe davon aus, dass viele im Publikum das Buch dank des ARD Radiofestivals im Sommer kennen würden. Dort sei das Buch in 40 Nächten ungekürzt gesendet worden, zu seiner großen Freude.

Heute Abend wolle er mit dem Publikum einen Spaziergang durch das Buch machen. Normalerweise würde er beim Geschichten erzählen von A bis Z gehen, heute jedoch ausnahmsweise nur von A bis W und vielleicht noch ein Zipfelchen von Z erzählen. X und Y würde er auslassen, sonst würde der örtliche Buchhändler ungemütlich, feixte Rafik Schami mit einem Augenzwinkern.

Die geheime Mission des Kardinals beginne am 14.11.2010 in Damaskus. Kommissar Barudi ist 65, betrauert den Tod seiner Frau und lebt einsam in einer Wohnung in einem der Bauskandale (sic) der 1970er Jahre. Die Wände dort sind so dünn, dass sie nur den Geruch, jedoch nicht die Geräusche filtern. So kann Barudi alles hören, was bei den Nachbarn vorgeht. Eigentlich sei Gott Meister im Schimpfen, tue das zur Not auch mit Schwefel, Heuschrecken und wenn nichts mehr gehe, dann mit einer Sintflut zur Reinigung. Doch auch nebenan bei Barudi geht es hoch her, Ruhe kann er in seiner Küche nicht immer finden.

Dort sitzt Barudi vor einem selbstgebastelten Kalender, auf dem er die Tage bis zu seiner Pensionierung abstreicht. Noch 2,5 Monate, dann steht dort „Ich bin frei.“ Nach 40 Jahren als Kriminalbeamter in einer Diktatur kann Barudi die Versetzung in den Ruhestand kaum erwarten, denn die Wahrheit wird oft nicht gewürdigt. Stattdessen gibt es 15 Geheimdienste, die alle über der Polizei stehen und Barudi ist müde. Einige Dinge kann er seinem Frisör anvertrauen, zu dem er immer geht, wenn er seine Frau Basma besonders vermisst, vieles jedoch nicht. Durch einen guten Freund fing er an, unaussprechliche Dinge einem Tagebuch anzuvertrauen, das er stets gut versteckt.

Am 15.12.2010 wird der italienischen Botschaft in Damaskus unerwartet ein Fass Olivenöl geliefert, in dem sich nicht nur Olivenöl befindet, sondern auch der Leichnam des Kardinals Cornaro. Eigentlich sei der Kardinal Bürger des Vatikans, trotzdem werde seine Leiche zur italienischen Botschaft gebracht. Hier erzählte Rafik Schami noch, dass ihn die Aufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen dem Vatikan und China stets amüsiert. 30 Jahre lang habe der Vatikan China nicht anerkannt und es nur auf Druck der EU getan. Im §9 stehe, dass die beiden Länder sich nicht angreifen würden und die Vorstellung in Richtung China marschierender Kardinäle bringe ihn zum Lachen.

Das Herz des Kardinals sei durch einen Basaltstein ersetzt worden, der bei den italienischen Clans für ein totes, erloschenes Herz stehe. Hinter seinen Augen befinden sich Münzen, was wiederum Gier bedeutet. Um politische Probleme zu vermeiden, schlägt Barudi vor, dass ein italienischer Ermittler hinzugezogen wird und so kommt es, dass der syrische Präsident bei Berlusconi anruft. Die Sache mit der Gier bei den Machthabern sei weitverbreitet. Berlusconi sei zwar vermögend, sein Name jedoch ein Witz und er solle seine Milliarden mit ins Grab nehmen. Rafik Schami liebt das Lachen des Publikums an dieser Stelle bei jeder der letzten 60 Lesungen in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Dieser Anruf führt dazu, dass ein arabischsprechender Italiener namens Mancini binnen weniger Tage in Damaskus landet. Während Mancini noch unterwegs zu Barudi sei, wollte Rafik Schami noch einiges andere erzählen.

Im Mittelpunkt seines letzten Romans Sophia habe eine starke Frau gestanden, denn es ging um Liebe. Jetzt gehe es um Politik, Mord und Streit, daher sei es eine männliche Hauptfigur. Barudi stamme aus einer armen christlichen Familie im Süden Syriens. Armut töte dort die Genialität der Kinder, von denen 99% nach den fünf Pflichtschuljahren arbeiten gingen. Barudi habe großes Glück gehabt und das Abitur gemacht. Danach habe es zwar nicht zu seinem Traum eines Jurastudiums gereicht, aber er wurde bei der Polizeiakademie angenommen.

In Syrien sei die Kriminalpolizei nicht gut angesehen, weil nur im untersten Teil der Machtpyramide ermitteln könne. Aus diesem Grund gebe es auch keine arabischen Krimis, denn wenn auf Seite drei der Ermittler eine politisch höherstehende Person frage „Und wo warst Du?“, dann sei das Buch vorbei mit dem Satz „Dann verschwand der Kommissar.“ Die besten Krimis mit arabischem Schauplatz würden im Ausland geschrieben. Der im Roman beschriebene Weg Barudis sei typisch für diese Gesellschaft, in der Aberglaube noch stark verbreitet sei und die Wahrheit oft unerwünscht.

Als Rafik Schami in Heidelberg arbeitete, habe er gelernt, dass Deutsche gerne auf Friedhöfen spazieren gingen. In Syrien glaube man, dass jeder nur ein Mal zum Friedhof gehe und man von dort nicht zurückkomme. Ein Kollege namens Willi wollte mit Rafik Schami an einem sonnigen Tag in Heidelberg zu einem Spaziergang über den nahegelegenen Friedhof machen – doch Rafik Schami arbeitete lieber weiter, statt sich dem Friedhof zu nähern. Für Syrer sei es unverständlich, dass man in London sogar freiwillig Eintritt für einen berühmten Friedhof bezahle.

Die wechselnden und teilweise sehr unterschiedlichen Reaktionen im Publikum zu beobachten, machte Rafik Schami sichtlich Freude und er erklärte, dass er genau deshalb nie wolle, dass das Licht über den Zuschauern abgedunkelt werde.

Dann kehre er zurück zum Lebensweg von Barudi, der inzwischen seine Ehefrau Basma gefunden hatte und ein Pflegekind namens Sharif. Um den muslimischen Sharif adoptieren zu können, will Barudi zum Islam konvertieren. Alle Religionen gehörten Gott, er würde das für Sharif gerne tun. Früher sei das Konvertieren einfacher gewesen. Bei den Christen habe ein Eimer Wasser mit ein paar Sprüchen gereicht, in anderen Religionen müsse man sich von einem kleinen, unwichtigen Stück Haut trennen. Doch heute würden die Regierungen mehr fordern, um Missbrauch zu verhindern, wenn es nur der Erlangung persönlicher Vorteile diene.

So geduldig und gründlich geht auch Naima, eine der Nachbarinnen von Barudi, vor. Sie recherchiert kleine Details über ihn, überlistet ihn immer wieder im Treppenhaus mit kleinen aufmerksamen Gesten und Geschichten, bittet ihn um Hilfe wegen eines benachbarten Ehepaars, bis er irgendwann zum Essen eingeladen in ihrer Wohnung landet. Naima hat perfekt taktiert, ist einfühlsam auf ihn eingegangen und sich stets rechtzeitig zurückgezogen, sodass Barudi neugierig wurde. Perser seien für ihre ganz besondere Geduld und Gründlichkeit bekannt, wie die Teppichknüpfer, Knoten für Knoten, und auch der Idiot Trump werde das noch lernen.

Der vom Publikum schon fast wieder vergessene tote Kardinal sollte in Syrien nach Kandidaten für den ersten syrischen Heiligen suchen. Es sei in den Augen der katholischen Kirche in Syrien nicht richtig, dass im Himmel nur europäische Heilige seien und so habe man einige Kandidaten vorgeschlagen. Diese bedienen sich der verschiedensten Tricks, um Anhänger zu gewinnen, wie z.B. durch das Ausschwitzen von Olivenöl oder Rotwein. Aber schon Padre Pio habe die Wunden an seinen Händen geschickt mit Salzsäure offengehalten, das habe er als Chemiker gut gekonnt. Wenn man genau nachdenke, könnten die Wunden der Kreuzigung nicht in der Mitte der Handfläche sein, sondern an den Handgelenken. Die Maler hätten das damals genial gelöst, weil die zum Betrachter geöffneten Hände besser wirken als herabhängende.

Die beiden ungleichen und doch irgendwie ähnlichen Ermittler Barudi und Mancini landen in der „Islamischen Republik“ und besuchen dort einen sehr geschäftstüchtigen Bergheiligen. An einer späteren Stelle des Romans bekommen Barudi und Mancini eine Linsensuppe, die eine mögliche Henkersmahlzeit sein könnte. (Warum möchte ich hier nicht verraten 😉 ) Jene Linsensuppe wolle er nicht näher beschreiben, schmunzelte Rafik Schami. Linsensuppe mit Zwiebel, Knoblauch, Koriander sei so lecker. *

Dann übersprang Rafik Schami betont X und Y, die Auflösung und kam nicht umhin, doch zu verraten,

dass der wahre Mörder zwar erkannt wurde, die Justiz diese Lösung jedoch abgelehnt habe und Barudi so auch in seinem letzten Fall scheitere – dafür aber von Naima getröstet werde.

[Einklappen]

Dann endete ein wahrlich arabischer Abend, gefüllt mit einer liebe- und humorvoll erzählten Geschichte mit minutenlangem Applaus des seelig lächelnden Publikums. Rafik Schami entschwand mit den Worten, dass man ihm draußen beim Signieren noch Fragen stellen könne.

Sein nächstes Buch erscheine in zwei Jahren und sei eine Sammlung von Kommentaren und Analysen. Er habe viel über seine Bücher nachgedacht und dazu geschrieben. Die jetzige Lesereise sei schon sehr lang und stünden noch 40 Termine an, daher freue er sich auf den Sommerurlaub, den er traditionell in Italien verbringe. Dass sein Buch für das ARD Radio Festival ausgewählt wurde, unter 20 möglichen, sei für ihn eine große Ehre gewesen und er freute sich, dass es bei in Foren gemeinsam genossen wurde. Wer der syrischen Bevölkerung helfen wolle, könne z.B. für die Stiftung Schams e.V. spenden, die sich um Flüchtlingskinder in den Nachbarländern Syriens kümmere.

* Ein tolles Kochbuch: “Suppen für Syrien” https://www.dumont-buchverlag.…en-massaad-9783832199258/

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Lesung Alexander Osang, 18.10.2019, Frankfurt

 Alexander Osang - Die Leben der Elena Silber ©Fischerverlage

Alexander Osang – Die Leben der Elena Silber
©Fischerverlage

Zu Beginn wurde Alexander Osang kurz vorgestellt. In seinen Büchern gelinge es ihm, vieles über die Wende und die DDR zu erklären, ohne dass es erklärend wirke. Er erzähle von den Menschen, lasse sie durch die Zeit reisen und vermittele so viel Wissen.Nach der Wende sei er viel gereist, habe u.a. in New York gelebt, derzeit in Berlin.

Sein neuester Roman Die Leben der Elena Silber umspanne das gesamte 20. Jahrhundert. Im Mittelpunkt stehe eine Frau, die jede Chance ergreift, um Russland zu verlassen. Elena Silber nehme die Hand eines Deutschen, auch wenn dieser nicht ihre große Liebe sei. Die Figur ist an Alexander Osangs Großmutter angelehnt.

Durch ihre Augen erleben die Leser Faschismus, Sozialismus und Kapitalismus, während Elena Silber keine Zeit habe, ihr eigenes Leben zu verstehen, durch das sie nicht unbeschadet komme. Ihr Enkel Konstantin sei interessiert an ihrer Lebensgeschichte, dessen Mutter wolle nichts dazu sagen, der Vater könne nicht mehr, weil er sein Gedächtnis verliere. Bei Tanten und Onkel verhielte es sich ähnlich.

Im Jahr 1905 lebt die junge Jelena Krasnowa in einer russischen Kleinstadt, 400 km östlich von Moskau. Sie muss miterleben, wie ihr Vater von Anhängern des Zaren erschlagen wird und die Familie fliehen muss.

Alexander Osang las mehrere längere Passagen aus dem Roman, sodass die Leser die junge Jelena Krasnowa kennenlernen, den letzten Tag eines Gerichtsprozesses miterleben und wie Jelena ihren späteren Ehemann verführt. Just an jenem Tag, an dem Lenin starb, so wird es Jelena später ihren Töchtern erzählen. In einer weiteren Lesung lernen die Leser (J)Elenas Enkel Konstantin kennen, einen nicht besonders erfolgreichen Buch- und Drehbuchautor, dessen Vater in das gleiche Pflegeheim soll wie zuvor die Großmutter.

Während Konstantin die Familiengeschichte aufschreiben will, eine Geschichte der Flucht und auch der heutigen Zeit, will seine Mutter nichts davon hören und auch nicht über die Vergangenheit sprechen.

Bei der Premierenlesung in Berlin konnte Alexander Osang nicht viel über die Bezüge zur eigenen Familiengeschichte sagen, weil sowohl seine Mutter als auch seine Schwiegermutter im Publikum saßen. Es sei auch deshalb schwierig, weil es nicht seine Geschichte sei und er keine Geheimnisse anderer verraten wolle, durch Informationen, welche Teile authentisch und welche erfunden seien.

Der Vater seiner eigenen Großmutter sei tatsächlich 1905 von Zarenhäschern hingerichtet worden und seine Großmutter habe einen starken russischen Akzent und eine Vorliebe für Mehlspeisen gehabt. Als Kind und Jugendlicher habe er die Erzählungen der Großmutter eher als Märchen wahrgenommen und erst später begriffen, dass viele der heutigen Spannungen in seiner Familie mit diesem Initialerlebnis zu tun hätten. Auch viele seiner eigenen Ängste hätten dort ihren Ursprung.

Jetzt sei gerade wieder ein Jahrestag des Mauerfalls, bei dem die Ostalgie blühen würde und die Ostler auf die Couch gelegt würden. Es werde analysiert, warum sie so seltsam seien. Er selbst gehe davon aus, dass ihn andere, frühere Dinge mehr prägten als die 25 Jahre DDR, die er erlebt. Die Biographie seiner Großmutter sei die einer ständigen Flucht.

Erinnern sei ein schwankender Untergrund und es sei auch ein Roman über das Erinnern und Vergessen. Der Stoff des Romans habe ihn schon länger beschäftigt, wenn auch sehr persönlich und vor fünf Jahren habe er mit der Arbeit daran begonnen. Es sei ihm lange alles als zu groß erschienen und so habe er kleinere Romane geschrieben, über die Verwerfungen der Wende und über seine Zeit in Amerika. Er habe viele russische Romane gelesen und wollte die Menschen und Landschaften sehen. Selbst erleben, wo sich seine Helden bewegen und wie kalt es dort wirklich im Winter ist, wie das Eis des Flusses aussieht und wie sich alles anfühlt. Deshalb sei er in den Heimatort seiner Großmutter gefahren, seltsamerweise als erster seiner Familie.

Bei einem Aufenthalt in Tel Aviv bot My Heritage kostenlose Gentests an und er war neugierig, wo die genetischen Wurzeln seiner Familie liegen, fest davon ausgehend, dass diese eindeutig russisch seien. Nach zwei Monaten habe er die Auswertung bekommen und seiner Gene 60% seien französischer Herkunft. Jetzt frage es sich, wo das russische Erbe sei.

Im Roman entdeckt Konstantin, dass die Großmutter Lebenslügen hatte, alle sehr verständlich. Sie habe damit gelebt und diese an ihre fünf Töchter weitergegeben. Deren deutscher Vater verschwinde in den Nachkriegswirren in relativ ungeklärten Umständen, vielleicht in den Westen, war er ein Nazi oder wurde er ermordet? Steckt er vielleicht in Südamerika, da gebe es viele Spekulationsmöglichkeiten.

Alexander Osang geht davon aus, dass alle Menschen sich Traditionspodeste bauen. Jeder würde sich entweder mit den Eltern identifizieren oder sich von ihnen distanzieren. diese Dinge hätten besonders der Nachkriegsgeneration beim Überleben geholfen. So gingen die Töchter von Elena Silber sehr unterschiedlich mit der Mutter und deren Erzählungen um. Die fiktive Familie hätte gut in Schlesien gelebt und musste dann plötzlichen den Heimatort und die Textilfabrik verlassen.

Er habe es selbst erlebt, wie schnell falsche Erinnerungen entstehen könnten. In den 1990er Jahren seit er für den Spiegel in den USA gewesen und hätte Erinnerungen an Dinge, die nachweislich so nie passierten, wie er neulich feststellte. Umso älter man werde, umso größer würden solche (falschen) Erinnerungen. Jelena wolle ihren Mädchen eine Familienkonstruktion geben und spiele mit den verschiedenen Möglichkeiten. Die Risse dazwischen kitte sie mit erfundenen Begebenheiten. Im Roman würden die Männer irgendwie alle verschwinden und auch Konstantin wirke nicht besonders stabil. Irgendwie sei es ein Roman starker Frauen stelle Alexander Osang fest. Es sei die Geschichte vieler Menschen. Sein Großvater liege in Russland, sei dort hingerichtet worden. Später habe die deutsche Wehrmacht Millionen Russen ermordet. Es falle ihm schwer, Wut oder Stolz zu empfinden.

Alexander Osang sei in einem sozialistischen Land großgeworden, das sehr stark durch die Sowjetunion geprägt wurde. Ziel seines Romans und der Arbeit daran sei gewesen zu untersuchen, wie ihn dies geprägt habe, nicht Familiengeheimnisse herauszubekommen. Während seines Aufenthaltes in Russland wollte er die Landschaften und Umstände erforschen, hätte er dort zu viel über seine Großmutter herausgefunden, hätte sie ihm später beim Schreiben im Weg gestanden. Natürlich sei jedoch aus jeder beantworteten Frage eine neue entstanden.

Über das Erscheinen des Buches sei er sehr erleichtert, jetzt sei dieses große und emotionale Projekt für ihn abgeschlossen und als nächstes wolle er eine kleine Novelle schreiben.

Für ihn persönlich sei der prägendste Einfluss von 25 Jahren DDR auf die Familiengeschichte seine eigene Ruhelosigkeit, Misstrauen gegenüber dem Staat. Der Einfluss seiner Familiengeschichte seien ein Gefühl der Entwurzelung und seine Umtriebigkeit, ein Drang durch die Welt zu reisen. Er habe festgestellt, dass er am glücklichsten sei, wenn er reise.

Nach der Veranstaltung beantwortete Alexander Osang beim Signieren noch geduldig Fragen der zahlreichen Zuschauer.

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Lesung und Gespräch Takis Würger, 28.03.2019, Brunosaal Köln

Foto ®ottifanta

Foto ©ottifanta

Die Stimmung war positiv gespannt im fast ausverkauften Brunosaal in Köln als Takis Würger und Adriana Altaras die Bühne betraten.

Die Veranstaltung begann direkt mit der im deutschen Feuilleton heiß diskutieren Frage „darf man das“. Darf man einen Liebesroman über eine deutsche Jüdin schreiben, die andere Juden an die Gestapo verriet. Adriana Altaras selbst sei genau das oft gefragt worden und sie finde absolut, dass man das darf. In Stella und am heutigen Abend gehe es um Schuld, Liebe und Moral.

Dann stellte sie kurz Takis Würger vor, der 1985 geboren wurden und vielen vermutlich als der Autor von Der Club bekannt sei, das für Adriana Altaras ein „Hammerbuch“ ist. Er habe die Journalistenschule besucht, in Cambridge studiert und als Kriegsreporter gearbeitet.

In seinem neuen Buch geht es um Stella Goldschlag, die eine sogenannte Greiferin gewesen sei. Takis Würger findet den Begriff Greiferin unglücklich, es klinge für ihn zu schnittig. Seines Wissens hätten rund zehn Juden mit der Gestapo kollaboriert. Von einem Freund, der das Theaterstück Stella besuchte, hörte er zum ersten Mal von Stella Goldschlag. Eine gebildete, musische Jüdin, die in einer geheimen Jazzband spielte und 1943 mit ihren Eltern verhaftet wurde. Die Gestapo stellte sie dann vor die Wahl, ihre Eltern mit dem Zug nach Auschwitz fahren zu sehen oder mit der Gestapo zu kollaborieren. Sie entschied sich die Kollaboration und sei für den Tod von Hunderten von Juden verantwortlich. Das Theaterstück und der Film Die Unsichtbaren hätten sich bereits vor dem Roman mit Stella Goldschlag beschäftigt.

Für Adriana Altaras stellt sich hier die Frage nach der individuellen Schuld und was man selbst getan hätte. Ihrer Ansicht nach haben die Zeiten sich gewandelt. Zuerst seien Juden Opfer gewesen, dann sei die Phase gekommen „aber wir Deutschen haben auch gelitten, Dresden brannte usw.“ und dann, dass es auch böse Juden gab.

Ob man mit der Gestapo kollaborieren könne, sei eine sehr komplexe Frage und erst recht, warum Stella Goldschlag auch nach dem Tod ihrer Eltern weitermachte.

Takis Würger kann die Aufregung über sein Buch nicht recht verstehen, denn es sei bereits vor rund 25 Jahren ein Sachbuch über Stella Goldschlag erschienen, das jetzt neu aufgelegt wurde und auch das Musical wurde bereits im Sommer 2016 erstaufgeführt. Ihm selbst sei kein anderes Beispiel für böse Juden bekannt, Fälle in denen Juden Täter waren. Wieviel Mitschuld Stella Goldschlag getragen habe, sei für ihn ein wichtiges Thema.

© Hanser Literaturverlage

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Adriana Altaras war schockiert, dass die Kritiken oft kaum an Häme zu überbieten waren. Auf der anderen Seite war Stella beim NDR “Buch des Monats” und die Jüdische Allgemeine habe es als „Leise, glaubwürdig und ja, auch schonungslos, aber an keiner Stelle unempathisch, effekthascherisch oder gar reißerisch” beurteilt.

Für sie sei der Eindruck entstanden, dass nur noch Juden über den Holocaust schreiben dürften, Maxim Biller, sie selbst und wenige andere. Wie sich Takis Würger die Häme erkläre? Seiner Meinung sei es am besten, wenn der Autor nichts dazu erkläre. Natürlich hoffe man als Autor, dass das Buch gut ankomme. Als das Buch und die Kritiken erschienen, habe er mit vielen Buchhändlern gesprochen, die diese Diskussionen im Laden führen mussten und das Echo sei sehr positiv gewesen.

Am Ende des Buchs steht seine persönliche Emailadresse und nach den vernichtenden Kritiken am 11. Januar, habe er habe Angst gehabt, in sein Postfach zu schauen. Es seien einigen Emails von Buchhändlern gewesen, die das Buch vor den Verrissen lasen, es gut fanden und ihm zur Seite standen. Er bedankte sich an dieser Stelle ausdrücklich bei allen Buchhändlern für ihre Unterstützung. Insgesamt habe er rund 1300 Emails bekommen, von denen weniger als zehn verletzend gewesen seien. Viele hätten Kritik geäußert und es haben Diskussionen gegeben. Das größte Kompliment sei für ihn gewesen: „Ich habe Ihr Buch vor zwei Tagen fertig gelesen, aber ich noch lange nicht fertig damit.“

Sein Verleger und Lektor habe die Ansicht vertreten, dass sein Buch diese Debatte eigentlich nicht hergeben würde, was ihn wiederum amüsierte.

Dann las Takis Würger gekonnt das Kapitel, in dem Friedrich vorgestellt wird. Wie er in der Schweiz aufwächst und von seiner Mutter gedrillt wird, die ein einziges Ziel hat und ihn dafür schon früh an der Staffelei stellt. Es folgt ein einschneidendes Ereignis, das Friedrichs Leben für immer verändert.

Für Adriana Altaras ist es sehr wichtig, dass Friedrich immer die Wahrheit sagt, so wie er es von seinem Vater lernte. Als er sich jedoch in Stella Goldschlag verliebt, kann und will er vieles nicht sehen.

Takis Würger betont an dieser Stelle, dass Stella ein Roman ist, vorher sei über die historische Stella Goldschlag gesprochen worden und er wolle auf den Unterschied hinweisen, worauf Adriana Altaras lakonisch kontert, dass es ein Roman sei stehe doch vorne drauf.

Seiner Meinung nach verhalte sich Friedrich so, weil Stella Goldschlag die erste sei, die ihm das Gefühl gebe, so ok zu sein, wie er ist. Friedrich frage nicht nach, weil er um jeden Preis das erhalten wolle, was er gefunden hat. Ja, Friedrich sei sehr naiv, aber er reflektiere auch über Stella und Takis Würger zitiert eine kurze Stelle aus dem Roman „vielleicht habe ich gewusst…“. Vielleicht hätte er diese Stelle deutlich herausarbeiten sollen.

Adriana Altaras vermutet, dass die Kritiker so hysterisch seien, weil es Unterschiede zwischen dem Roman und der historischen Realität gibt.

Takis Würger hatte während des Schreibens auch Kontakt zu Professor Sascha Feuchter, Leiter der Stelle für Holocaustliteratur an der Uni Gießen. Dieser habe ihm die Frage gestellt, ob man im Jahr 2019 ernsthaft eine Debatte darüber führen würde, was Literatur dürfe. Es sei Kunst, die dürfe alles.

Wenn die Generation von Takis Würger nicht darüber schreibe, während die letzten Zeitzeugen noch leben, dann beginne die Zeit des Schweigens. Ob man darüber eine Liebesgeschichte schreiben könne und diese gelesen werde, könne man diskutieren. (Interessante Radiosendung mit Sascha Feuchter *klick*) Die Shoa sei so groß gewesen. Wenn sein Roman dazu führe, dass ein Einziger über dieses Thema google und sich dafür interessiere, sei er zufrieden.

Für Adriana Altaras ist ein Roman seiner Generation und sie findet es wichtig, dass die Generation der 30-40 Jährigen über die Zeit schreibt, statt damit aufzuhören, weil man nicht Primo Levi ist.

Ihrer Ansicht nach ist Friedrich extrem naiv. Sie kann scheinbar Takis Würgers Beteuerungen, dass nur Friedrich so naiv sei nur halbherzig Glauben schenken und wünschte sich deutlichere Aussagen dazu im Buch. Ihrer Ansicht nach sei er ausgewichen und sie hofft auf mehr im nächsten Buch.

Takis Würger fände es anmaßend, die Frage zu beantworten, was man selbst an Stella Stelle getan hätte. Er wünsche sich, dass die Leser selbst darüber nachdenken.

Dann las er jene Textstelle, in der Friedrich und Stella sich zum ersten Mal begegnen.

Im Buch sind zahlreiche Zeugenaussagen über Stella Goldschlag in kursiver Schrift abgedruckt, sowie immer wieder kurze Sammlungen zeithistorischer Informationen.

Ihm sei das Leben der Figuren wie ein Kammerspiel vor einer Luxuskulisse in Berlin vorgekommen, als ob die Nazis nicht gleichzeitig Krieg führen würden und Juden ermorden.

Die Zeugenaussagen seien sehr kalt und klar, sie würden deutlich zeigen, wie gefährlich diese Frau war. Durch die Chronikeinträge würden die Leser gezielt immer wieder aus der Geschichte geworfen. Dies sei lange im Lektorat diskutiert worden. Er wollte den Lesern etwas vom Inhalt der rund vier Dutzend Bücher über die 40er Jahre vermitteln, die er las, weil er selbst überrascht war, wie wenig er über diese Zeit wusste. Die Leser sollten erfahren, was alles passierte, während in Berlin diese Liebesgeschichte spielt. Während des unglaublichen Terrors der Nazis passierten auch unglaublich triviale Dinge, Oscar wurden verliehen, Opern aufgeführt usw. Für ihn sollten die Chronikeinträge illustrieren, dass das Leben weiterging.

Ihn fesselte das Tagebuchs eines US-Journalisten, der 1942 im Adlon lebte und nachts ein anderes Leben führte, der die geheimen Jazzclubs ging und von zwei französischen Kriegsgefangenen erzählt, die Wein aus Fässern auf Flaschen zogen, weil so viel Wein getrunken wurde. Er wollte zeigen, dass auch böse Menschen Feste feierten, u.a. auf der Wannseekonferenz.

Das Böse habe sehr viele Facetten. Bei seiner Recherche sei er immer wieder bei Reinhard Heydrich hängengeblieben. Sohn eines Komponisten, der selbst sehr musikalisch war, Violine spielte und von Musik oft zu Tränen gerührt wurde. Gleichzeitig habe er die Wannseekonferenz geplant und sei ein Monster gewesen. Heyrich habe er nicht in den Roman nehmen wollen, daher gebe es Tristan von Appen, der zunehmend bösartig sei und Nazi.

Adriana Altaras gefällt es, dass die Figuren mehrere Facetten haben und wünscht sich für den nächsten Roman noch vielschichtigere Figuren. Die historische Stella Goldberg sei nach dem Krieg in einem ersten Prozess zu zehn Jahren Lagerhaft verurteilt worden, nach ihrer Freilassung in einem zweiten Prozess später zu weiteren zehn Jahren, die jedoch als verbüßt galten. Sie habe erfolglos versucht, eine Rente als Opfer des Faschismus zu bekommen und sich später durch einen Sturz auf dem Fenster umgebracht. Ihre Tochter sei um die Zeit des ersten Prozesses von Berliner Juden adoptiert worden, die mit dem Kind nach Israel auswanderten. Die jüdische Gemeinde habe den Kontakt zwischen Mutter und Tochter später verhindert.

Dann erklärte Takis Würger, dass Stella Goldschlag ihre publizistischen Persönlichkeitsrechte vererben wollte. Dies sei jedoch nicht möglich, man könne nicht beeinflussen, wie nach dem Tod über einen geschrieben werde. Wenn man eine Person der Zeitgeschichte sei, sei es sowieso anders.

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Lesung aus EINSAME WELTREISE von Alma Karlin, 23.03.2019, Leipziger Buchmesse

© Aviva Verlag

© Aviva Verlag

Ohne die Veranstaltung bei der taz wäre ich vermutlich nie auf das neu entdeckte Einsame Weltreise der bereits 1950 verstorbenen Alma Karlin aufmerksam geworden.

Doris Akrap moderierte die Veranstaltung mit Jerneja Jezernik (Verlegerin) und Britta Jürgs (Herausgeberin) vom Aviva Verlag.

Alma Karlin wurde 1889 in Cilli geboren, damals Teil Österreich-Ungarns, heute slowenisch, und gehörte zur deutschsprachigen Minderheit. Von Geburt an halbseitig gelähmt, werden ihr nur geringe Überlebenschancen gegeben. Sie bereiste alleine die Welt und starb 1950 verarmt, zurück in Cilli.

Jerneja Jezernik war fasziniert von dieser vielseitig interessierten Frau, die zu den zehn größten Weltreisenden gehörte. Als erste Frau war sie von 1919 bis 1927 insgesamt 8 ½ Jahre alleine am Stück unterwegs, verfügte über geringe finanzielle Mittel, stammte aus kleinbürgerlichen Milieu. Alma Karlin besaß eine Schreibmaschine namens Erika und wollte schreiben. In Cilli war sie zweisprachig aufgewachsen, sprach Deutsch als Muttersprache und Slowenisch. Auf ihren Reisen konnte sie meist gut mit den Menschen vor Ort kommunizieren, weil sie noch zahlreiche weitere Sprachen lernte, wie z.B. Russisch, Englisch, Französisch, Spanisch, Italienisch, Norwegisch, Schwedisch, Dänisch, sowie Sanskrit, Chinesisch und Japanisch.

Nach der Besetzung ihrer Heimat durch Deutschlang wurde sie als eine ersten verhaftet, später versteckte sie Dissidenten. Nach dem zweiten Weltkrieg war die deutsche Sprache wegen der Nazis verpönt und sie half vielen Flüchtlingen. Erst nach der Unabhängigkeit Sloweniens kam es zur Wende und sie gehört wieder zum Kanon der slowenischen Literatur, auch wenn manche sie nicht als slowenische Autorin gelten lassen wollen, weil sie auf Deutsch schrieb. In der sozialistischen Föderation Jugoslawien spielte Alma Karlin keine Rolle und geriet etwas in Vergessenheit.

Heute ist sie in ihrer Heimat hochaktuell, obwohl ihr Werk ins Slowenische übersetzt werden muss, spricht die Jugend an und inspirierte Filme und Zeichentrickfilme. Die slowenische Post widmete ihr eine Sondermarke. Zwischen den beiden Weltkriegen war sie die meistgelesene Reiseschriftstellerin.

Das Manuskript ihrer Autobiographie Ein Mensch wird liegt in Ljubljana in der Nationalbibliothek, wo Jerneja Jezernik es las. Dieses Buch ist ebenfalls im Aviva Verlag erschienen.

Britta Jürgs war sofort interessiert an der slowenischen Reiseschriftstellerin. Bei der Lektüre ihrer Bücher gefiel ihr die Sprache und Alma Karlins Blick auf die Welt. Ihr lakonischer Stil habe sie sofort gepackt.

Doris Akrap merkte an, dass Alma Karlin mit sich selbst sehr hart ins Gericht gegangen sei, wenn sie ihr Verhältnis mit der Welt und ihrem Körper beschreibt. Die Ärzte erwarteten nicht, dass sie älter als 12/13 Jahre werden würde und ihrer Mutter wurde die Schuld für die Behinderung der Tochter gegeben, weil sie bei der Geburt bereits 45 Jahre alt war.

Alma Karlins Motivation zur so genannten einsamen Weltreise sei u.a. gewesen, es der Welt zu zeigen. Sie sei oft verliebt gewesen, immer in Männer, die hochintellektuell waren, oft Künstler, körperliche Liebe sei ihr jedoch nicht möglich gewesen, für die Kunst wollte sie rein bleiben. Der Kontakt zu Künstlern habe ihr viel gegeben, aber auch zu vielen traurigen Momenten in ihrem Leben geführt.

Weil es immer wieder Schwierigkeiten mit den Visa gab, konnte sie nicht alle Länder besuchen, die sie gerne gesehen hätte. Das Visum für Japan erhielt sie ohne Probleme und es wurde ein Auszug aus ihrem Bericht über den Aufenthalt dort vorgelesen.

Britta Jürgs wurde bei der Lektüre bewusst, wie gefährlich es damals für alleinreisende Frauen war, erst recht, wenn man sich nur einfache Unterkünfte leisten konnte. Alma Karlin musste immer wieder unterwegs Geld für die nächste Etappe verdienen. In Südamerika machte sie schlechte Erfahrungen mit anderen Menschen, wurde ausgeraubt. Mit der Zeit sei sie bitter geworden. Auf der anderen Seite habe sie von Frauen dort eine unglaubliche Solidarität erfahren und es sei immer wieder deutlich, dass sie mit den falschen Erwartungen einer Europäerin auf die Reise ging.

Jerneja Jezernik (deren wunderbares und fast akzentfreies Deutsch sehr beeindruckend war), kann sich kaum vorstellen, wie es damals für Frauen war, alleine durch die Welt zu reisen. Heute sei eine junge Frau (deren Namen ich leider nicht verstand) auf den Spuren von Alma Karlin unterwegs, aber gemeinsam mit ihrem Freund. Derzeit sei sie in Hawaii und interviewe viele Frauen, wie es vor 100 Jahren für eine Alleinreisende gewesen sein könne.

Für Britta Jürgs war es interessant zu lesen, wie offen und gleichzeitig europäisch Alma Karlin ist, offen mit eurozentrischem Blick ging sie in die Welt, nicht nationalistisch für ihr Herkunftsland und stellte sich gegen die Vorurteile anderer reisender Frauen in Amerika. Natürlich sei auch sie nicht frei von Vorurteilen gewesen, war Kind ihrer Zeit und nachdem sie in Peru schlechte Erfahrungen mit Männern machte, habe sie besonders rassistische Ausdrücke für die Männer von dort verwendet.

In Japan hingegen sei sie als Frau gleichwertig gewesen, habe sich voll akzeptiert gefühlt und gleichzeitig selbst als minderwertig empfunden.

Ihre zeitgenössischen Leser hätten ihre Berichte nicht als rassistisch empfunden, dafür bemängelt, dass sie judenfreundlich schreibe, sei die Wahrnehmung heute genau umgekehrt.

In ihren Berichten ist zu lesen, dass Mischehen und deren Kinder damals weltweit nicht erwünscht waren und aus der jeweiligen Gesellschaft ausgestoßen wurden. In unserer globalisierten Welt habe sich das gewandelt.

Das Manuskript der Autobiographie tippte Jerneja Jezernik ab und hörte vom Bibliothekar, dass das Material von Alma Karlin zu den meist erforschten und ausgeliehenen gehört.

In ihren Büchern gebe es sowohl feministische Aspekte und es werde spekuliert, ob sie homosexuell war, weil sie mit einer Freundin zusammenlebte. Ihre ganze Persönlichkeit sei so mannigfaltig, passe in kein Regelfach und spreche daher sehr viele Menschen an.

Dann wurde der Anfang ihrer Autobiographie vorgelesen, in der Alma Karlin selbstironisch schildert, dass ihre Verwandtschaft es als Segen empfand, dass sie Einzelkind blieb und von ihren Plänen für die Reise nach Japan. Sie bezeichnete sich selbst als „Zusammenkratzerl“ aufgrund ihrer mehrfachen Behinderung.

Jerneja Jezernik arbeitet an einer Biographie über Alma Karlin und versucht, deren komplexe Persönlichkeit zu verstehen. Zur Freude von Britta Jürgs direkt auf Deutsch, denn es sei schwierig eine Biographie über eine deutschsprachige Schriftstellerin aus dem Slowenischen zu übersetzen.

Zum Abschluss lud Jerneja Jezernik die Anwesenden ein, im Frühjahr oder Herbst nach Slowenien zu reisen oder literarisch auf die Spuren von Alma Karlin die Welt zu erkunden. Doris Akrap freut sich auf mehr slowenische Literatur in der nächsten Zeit, da Slowenien 2020 Gastland der Frankfurter Buchmesse sein wird.

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Lesung T.C. Boyle, 07.02.2019, Lichtburg Essen

©Hanser

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„Guten Abend meine Damen und Herren. Willkommen“, begrüßte der gut gelaunte T.C. Boyle die gut 1100 Zuschauer. Er freue sich, wieder im Land der „greatest readers on earth“ zu sein. Die Moderatorin Margarete von Schwarzkopf erzählte, dass sie seine Bücher möge und dieses habe sie besonders mitgenommen. Das Licht zeigt den Lesern die frühe Zeit der LSD-Partys. Bei der Themenauswahl und beim Schreiben sei ihm nicht bewusst gewesen, dass das 50. Jubiläum von Woodstock anstehe. Ihn habe interessiert, wie LSD entstand und dass es aktuell wieder klinische Studien mit LSD als Medikament gebe und wer war Timothy Leary?

Im August 1969 fand in Woodstock das heute weltberühmte Festival statt, das sehr geprägt wurde durch gewisse Drogen. T.C. Boyle war mit seiner zukünftigen Frau selbst dort.

Anfangs sei Timothy Leary ein ehrenwerter angesehener Professor gewesen, der später bei seinen selbsterfundenen Experimenten zu weit gegangen sei. Dies alles noch vor der Hippiezeit und T.C. Boyle fragte sich, wie es von den konservativen 1950er Jahren recht schnell zu den Hippies und Jimi Hendrix gekommen sei. Das Jahr 1963 sei eine Zeit des Übergangs gewesen, die Beatles wurden in Großbritannien zunehmend populär.

Margarete von Schwarzkopf erzählte, dass er seine Frau er aufgrund ihrer deutschen Wurzeln Frau B nenne, und er vielleicht auch durch seine irischen Wurzeln Geschichtenerzähler geworden sei.

So wie zuvor bei Dr. Sex schildere er auch bei Das Licht das Leben einer historischen Persönlichkeit aus der Perspektive einer fiktiven Figur. Ihn habe weniger die detaillierte Schilderung der Trips interessiert als die Persönlichkeit von Timothy Leary. Wie sei es ihm gelungen, anderen Menschen von seinen Ansichten zu überzeugen, seien die Auswirkungen gut oder schlecht. Im Mittelpunkt seines neusten Buches steht Fitz, ein Schüler von Timothy Leary, sowie dessen Frau Joanie.

Auf Englisch heiße das Buch Outside Looking In, was seiner Meinung die Erfahrungen eines LSD-Trips gut beschreibe. Man habe das Gefühl, den eigenen Körper zu verlassen und von außen auf das Leben zu schauen. Weil dieser Titel sich nicht gut übersetzen lasse, habe der Hanser Verlag nach einem anderen Titel gesucht und er habe Das Licht vorgeschlagen. Timothy Leary habe LSD das „Sakrament“ genannt und in der Regel sei man nach der Einnahme von LSD sehr lichtempfindlich.

Leary habe auf der Suche nach der Erleuchtung LSD entdeckt und damit nach religiöser Erleuchtung gestrebt. T.C. Boyle erzählte, er sei in einer irisch-katholischen Familie aufgewachsen, habe aber mit elf Jahren beschlossen, Wissenschaftler zu werden und nicht mehr zur Kirche zu gehen. Seine Mutter habe ihn nicht gezwungen, weiter mitzugehen. Gleichzeitig sei er selbst sehr abergläubisch und später habe er auch noch die Existentialisten entdeckt, die nicht weniger „voodoo“ seien.

Bei der Beschreibung der Trips habe er auf eigener Erfahrungen zurückgegriffen, allerdings habe er schon lange keine Drogen mehr genommen. LSD verändere das Gehirn und in seinem Alter wolle er nichts mehr riskieren. Heute seien seine Arbeit, die Natur und Musik seine Drogen. Margarete von Schwarzkopf empfahl die Arte Dokumentation über T.C. Boyles Leben, die am Vorabend im Fernsehen gezeigt wurde.

Margarete von Schwarzkopf fragte T.C. Boyle, warum er nicht nach Europa ziehe, wohin er viele persönliche und berufliche Verbindungen habe. Weil er an Demokratie, Frauenrechte, die Umwelt und Bildung glaube. Er tweete jeden Tag gegen Trump und wolle zu dessen Niedergang aus den USA beitragen.

Im New Yorker erscheine am 11.02. eine Kurzgeschichte von ihm, Asleep at the Wheel (vorgelesen vom Autor und er habe in seinen „Letters from America“ davon erzählt, ins Weiße Haus zu gehen und Trump mit Pu der Bär das Lesen beizubringen.

Gregor Henze las aus dem ersten Kapitel von Das Licht, gefolgt von T.C. Boyle mit einem Abschnitt auf Englisch und abschließend wieder Gregor Henze mit einem Abschnitt auf Deutsch über den ersten LSD-Trip von Fitz und Joanie.

Die deutsche Ausgabe seiner Bücher erscheine auf seinen ausdrücklichen Wunsch zuerst, denn er wolle sich so beim Hanser Verlag bedanken, der es ihm ermögliche, nach Deutschland zu reisen. Ihm sei bewusst, dass viele seiner deutschsprachigen Fans die Originalausgabe vorziehen würden, aber Hanser solle alle zwei Jahren für einigen Monate in den Genuss dieser Exklusivrechte kommen.

Die Verfilmungen seiner Bücher würden ihm oft sehr gut gefallen, so z.B. die von Wellville, in die Arbeiten am Drehbuch und Set mische er sich grundsätzlich nicht ein. Er wolle sein eigenes künstlerisches Leben nicht auf Eis für jahrelange Produktionsarbeiten. Sein eigener Lieblingsfilm sei The Big Lebowski, den er unzählige Male angeschaute, bevor er ihn richtig verstanden habe.

Beim Schreiben höre er immer Musik, oft Klassik oder Jazz, aber auf keinen Fall Rock’n’Roll, weil die Texte ihn beeinflussen würden. Beim Verfassen eines bestimmten Abschnitts von Das Licht habe er tagelang Mozarts Requiem gehört, das könne man bestimmt auch beim Lesen spüren.

Aldous Huxley habe zwei Bücher über seine eigenen Erfahrungen mit Drogen geschrieben, diese seien eine seiner wichtigsten Inspirationsquellen für Das Licht gewesen. Huxley habe mit indianischen Pilzen experimentiert. Auch seine fiktive Figur Fitz sei auf der Suche nach dem Licht, nach Gott, auf einer Erleuchtung, die über sein gewöhnliches Leben hinausgehe. Sowohl Timothy Leary als auch Fitz seien Alkoholiker, auch das liege vielleicht schon in seinen eigenen irischen Genen. Er habe sich selbst die Frage gestellt, warum sie so weit vom Weg abweichen würden.

Margarete von Schwarzkopf versuchte vergeblich, ihm seine Einstellung zu den Figuren zu entlocken. Ihrer Ansicht nach sei Leary eher kalkulierend, Fitz unsicher und warmherzig. T.C. Boyle kommentierte nur augenzwinkernd, das könne man so sehen und er bedanke sich für ihre Meinung. Die Dynamik zwischen den beiden habe ihn fasziniert. Fitz sei Leary sowohl nach Mexiko als auch nach Milbrook gefolgt, wo dann zwölf Erwachsene und acht Kinder eine frühe Kommune bildeten. Einige hätten sogar geglaubt, dass LSD den Kindern zu einer höheren Intelligenz verhelfen würde. Milbrook sei heute noch im Privatbesitz und er konnte das Gebäude nicht besuchen, sondern nur von außen anschauen und darüber lesen.

Nach der Lektüre des Buchs würde sie mit Sicherheit kein LSD mehr nehmen wollen, erzählte Margarete von Schwarzkopf und fragte ihn, wie es gewesen sei, die Trips für das Buch zu schreiben. Als Künstler habe er wissen müssen, worüber er schreibe, aber für ihn seien z.B. auch Traumsequenzen in Büchern langweilig. Deshalb habe er nicht alles im Detail beschrieben, sondern vieles der Phantasie seiner Leser überlassen.

Damals hätten viele an die heilende Wirkung von LSD geglaubt, unter anderem Cary Grant, der die Legalisierung sehr befürwortet habe. Dafür sei leider im Buch kein Platz gewesen und er habe es nicht mit Gewalt unterbringen wollen. Dann fragte T.C. Boyle mit fast völlig ernstem Gesicht, ob schon jemand erzählt habe, dass auf Seite 25 ein kleiner Punkt sei mit einem Pfeil „hier lecken“.

Nach den Terranauten hätte dieses Buch auch gut Die Psychonauten heißen können. Die Menschen dürften nicht vergessen, dass auch wir eigentlich Tiere seien, die von einem Pilz so außer Gefecht gesetzt werden könnten, so wie Katzen durch Katzengras. Er liebe absurde Geschichten und man brauche Liebe im Leben, das so absurd sei und an dessen Ende immer irgendwann die Todesstrafe stehe.

Das Licht sei für ihn auch eine tragische Geschichte, Szenen einer Ehe. Auf seine Weise liebe er Fitz und Joanie. Das Buch werde abwechselnd aus der Perspektive von Fitz und Joanie erzählt. Eigentlich habe er auch eine Szene aus der Perspektive ihres Sohns Corey geschrieben, diese hätte jedoch nicht ins Buch gepasst. Vielleicht werde er dem Vorschlag von Margarete von Schwarzkopf folgen und diese Szene als Kurzgeschichte veröffentlichen. Aber er arbeite inzwischen an etwas Neuem, worüber er in den nächsten sechs Monaten noch nicht sprechen werde. Er könne nur verraten, dass es um das Bewusstsein von Tieren gehe. In zwei Jahren würde uns das Buch in Deutschland vorstellen.

Damit endete die knapp zweistündige Veranstaltung ohne Fragen aus dem Publikum und T.C. Boyle signierte geduldig zahlreiche Ausgaben von Das Licht.

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Lesung Mechthild Borrmann, 07.11.2018, Roßdorf

©Droemer Knaur

Die Lesung fand im malerischen alten Rathaus in Roßdorf statt, der Saal war fast bis auf den letzten Platz gefüllt. Zu Beginn wurde Mechtild Borrmann kurz vorgestellt, als Autorin, die am bekanntesten für ihre Krimis sei. Ihr letztes Buch Trümmerkind habe sich mit dem zweiten Weltkrieg und der Zeit kurz danach beschäftigt. In der Regel hätten ihre Bücher einen historischen Hintergrund. Grenzgänger spiele in den 1950er und 60er Jahren in der Bundesrepublik. Ob es hier einen historischen Hintergrund gebe, könne Mechtild Borrmann gleich selbst erzählen.

Dann betrat eine gut gelaunte Mechtild Borrmann die Bühne und las mit kräftiger und ausdrucksstarker Stimme den Prolog und das erste Kapitel. „Von Henriette Bernhard, geborene Schöning, soll hier die Rede sein…“. Henni, eine der Hauptfiguren, wurde vorgestellt. Schauplatz ist das Örtchen Velda in der Eifel, ihr Geburtsort. Der Prolog nimmt die Zuschauer mit ins Jahr 1970. Henni steht wegen zweifachen Mordes vor Gericht und ihre beste Freundin Elsa Brennecke kann nicht an ihre Schuld glauben. Beide sind 38 Jahre alt, ihr Leben ist nach der kurzen Kindheit sehr unterschiedlich verlaufen.

Es folgte eine zweite Passage, in der Elsa zum Gericht nach Aachen fährt und über die Vergangenheit und Gegenwart grübelt.

Im dritten Abschnitt sprang Mechtild Borrmann mit den Zuhörern ins Jahr 1945. Henni ist 12 Jahre alt. Ihr Vater kehrte schwer traumatisiert aus dem Krieg zurück und kann nicht mehr arbeiten. Stattdessen wendet er sich der Kirche zu, während Henni und ihre Mutter sich um den Unterhalt für die Familie kümmern.

Der vierte Abschnitt führte Thomas Reuter ein. Ein früherer Freund von Henni, der inzwischen als Kunstmaler in Lüttich lebt und sich mit Grauen an die Zeit im katholischen Kinderheim erinnert. Bilder, die er längst vergessen glaubte.

Nach der Pause erfuhren die Zuhörer dann mehr über den Titel des Buchs, denn es geht unter anderem um Kaffeeschmuggel in der Eifel zwischen 1945-48. Viele Bewohner der Eifel sicherten in jenen Jahren das Familieneinkommen durch den Schmuggel von Kaffee aus Belgien nach Deutschland. Es waren lange Fußmärsche durch den Wald und da die Erwachsenen für Schmuggel ins Gefängnis kommen konnten, wurden in der Regel die Kinder mit 5-8 kg Kaffee über die Grenze geschickt, während die Erwachsenen in der Nähe blieben. Die Kinder sollten schweigen, dann durften sie wieder gehen. Wenn sie jedoch öfter als drei Mal erwischt wurden, drohte die Fürsorge. Also kam dann das nächste Kind dran…. Nach einigen Jahren übernahmen bewaffnete Banden aus anderen Gegenden den Kaffeeschmuggel, bis es 1953 durch die Aufhebung der Kaffeesteuer nicht mehr lukrativ war.

Nach dem Tod der Mutter schließt sich die mittlerweile 14-jährige Henni den Schmugglern an, um zu verhindern, dass sie und die Geschwister ins Kinderheim müssen. Der Vater würde gerne dem Vorschlag des Pfarrers folgen, gegen den Willen der Kinder.

Im Anschluss an diesen Abschnitt wurde Mechtild Borrmann eine Flasche Roßdorfer Wein überreicht und die Zuschauer bekamen den Rat, sich das Buch zu kaufen und signieren zu lassen, falls sie wissen wollen, wie es mit den Figuren und der Geschichte weitergeht.

Damit endete die Veranstaltung und die Zuhörer gingen zum Büchertisch unten im Gebäude oder direkt nach Hause.

Zum Glück stellte vor und nach dem Signieren ein engagierter Zuhörer Mechtild Borrmann noch einige Fragen, und ich schloss mich ihm an.

Mechtild Borrmann kaufte auf einem Trödelmarkt ein altes Fotoalbum, weil sie nicht ertragen konnte, dass jemand praktisch seine Familiengeschichte/erinnerungen hergibt. In dem Album waren zahlreiche gestellte Porträts, die vom Anfang des 20. Jahrhunderts bis in die 70er Jahre reichten. Außerdem waren einige Gruppenfotos von Kindern dabei, die sie zunächst für Klassenbilder bzw. Schulfotos hielt. Auf dem Rücken eines Bildes stand „Kinderheim 1950“ und da sie im pädagogischen Bereich arbeitet, sei ihr klar gewesen, dass dies keine gute Zeit für Kinder im Heim war. Auf einigen der Porträts waren Schriftzüge der Fotostudios und so fand sie heraus, dass die Bilder aus der Eifel stammten.

In der Eifel habe sie dann wilde Schmugglergeschichten gehört, sowie Selbsthilfegruppen von ehemaligen Heimkindern besucht. Ulrike Meinhofs Bambule sei 1968 das erste Werk gewesen, das sich mit dem Schicksal der Heimkinder in den 1950/60er Jahren beschäftigt habe.

Ab 1970 habe es erste Anhörungen gegeben, aber die Justiz und Öffentlichkeit hätten den Berichten kaum Glauben geschenkt, es eher als Pflichtübung absolviert. Einflussreiche Respektspersonen aus der Kirche würden so etwas nicht tun – weil nicht sein kann, was nicht sein darf.

In der Eifel habe es damals ganze Dörfer gegeben, die Kaffee schmuggelten und viele Menschen hätten ihr von eigenen Erlebnissen oder denen ihrer Verwandten erzählt. Ein Marsch mit Kaffee über die Grenze brachte mehr Geld ein als der Wochenlohn der meisten Erwachsenen. Die Menschen hätten viele ungewöhnliche Möglichkeiten genutzt. So sei die Vennbahn nach dem Krieg Belgien zugesprochen worden, auch der Teil der Strecke auf deutschem Gebiet bis Aachen. So galten die Gleise als belgisches Staatsgebiet, alles außenherum war deutsch. Das Gebäude einer Gastwirtschaft lag in Deutschland, der Biergarten hinter dem Haus in Belgien…

Ihre Bücher plane sie gerne ganz genau mit Karteikarten an einer Korkwand. Bis zum fünften Kapitel würde sie sich an das Geplante halten und dann eine ganz andere Geschichte schreiben. Eine Freundin mache sich darüber lustig, aber sie brauche wohl das Gefühl, zu wissen, was sie tue.

Sie sei noch auf der Suche nach einem Thema für ihr nächstes Buch, hat aber schon eine Idee. Es würde vermutlich in der DDR beginnen. Mehr würde sie noch nicht verraten.

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Lesung Adriana Altaras, 12.10.2018, Ratskeller Frankfurt

©Kiepenheuer&Witsch

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Zu Beginn wurde Adriana Altaras kurz vorgestellt, sowie der Inhalt ihres neusten Buchs Die jüdische Souffleuse. Bekannt als Theaterregisseurin, Schauspielerin und Autorin, unter anderem von Titos Brille.

Schauplatz ist ein Theater, im Mittelpunkt stehen eine Regisseurin namens Adriana Altaras und eine Souffleuse namens Sissele. Auch wenn die Regisseurin ihren eigenen Namen trage, sei es kein autobiographisches Buch. Mit viel Humor erzählt sie von Sisseles Plan, Jahrzehnte nach dem Ende des zweiten Weltkriegs doch noch irgendwie ihre verschollene Verwandtschaft zu finden.

Adriana Altaras las das erste Kapitel und einen Abschnitt, in dem ihre mehr oder minder fiktive Regisseurin kurzfristig für die verhinderte Souffleuse einspringen muss – zum allerersten Mal Souffleuse ist und ausgerechnet in einer Aufführung, bei der sie selbst die Regie führt.

Das Theater sei der perfekte Schauplatz für diese Geschichte. Ihre Hauptfigur wundert sich, wer alles Unterschlupf am Theater finde. Vor allem am Chor, sogar ohne Deutsch zu können. Das sei doch ein Vorbild für die AfD. Ups, sie habe nichts gesagt.

Humor spiele in ihren Büchern eine große Rolle, denn Humor mache vieles erträglicher und schaffe manchmal auch eine gewisse Distanz. Wenn man das Leben immer ernst nähme, könne man es nicht ertragen. Durch den Humor könne sie sich oft distanzieren.

Genauso typisch für ihre Bücher ist es, dass es auch um den Holocaust, die Shoah gehe. In diesem Roman möge sie die Figur des Sissele besonders und ihre klaren Worte, ihre Chance auf eine ganz besondere Reise. Vor sieben Jahre habe sie zum 9. November eine Rede in der Paulskirche gehalten und vermutlich wäre Sissele in dieser Rede weiter als sie selbst gegangen.

Es folgte eine Lesung von zwei Abschnitten, in denen es um Kontakt zu Sisseles Vater geht und wie der Besuch verläuft. Der Vater ist Überlebender eines Sonderkommandos und hat seine Familie stark geprägt.

©ottifanta

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Ihre Lektorin habe Einiges sehr hart gefunden und abmildern wollen. So auf Seite 38, doch nach Adriana Altaras Ansicht gibt es Bücher über das Sonderkommando, die man nicht ertragen könne. Sie habe sich bemüht, es so zu schreiben, dass man das Lesen ertragen könne. Auch die Gewalt, die er auf seine Tochter ausübe. Die Erlebnisse dieser Menschen, deren eigene Worte könne sie nicht toppen.

Auf ihre Einstellung zur AfD und Neonazis angesprochen, erwiderte Adriana Altaras, dass sie bei Neonazis widerständig werde und nur kurz anmerken wolle, dass sie die AfD zum Kotzen fände und die Juden in der AfD das Letzte für sie seien.

Ihre Meinung nach bekomme die AfD zu viel Aufmerksamkeit. Auf der Buchmesse sei die Halle 4 heute zeitweise wegen Björn Höcke gesperrt gewesen. Über ihn und diese Partei werde überall gesprochen. Ein Frauenhaus in Freiburg habe einen Preis bekommen, aber über diese positiven Dinge spreche niemand. Warum? Man müsse mehr über die positiven Dinge sprechen.

Als sie Braunschweig „Elektra“ inszenierte, sei sie in der Zeitung als die „profilierteste Repräsentantin der jüdischen Kultur“ in Deutschland“ bezeichnet worden. Sie sehe sich, Eva Menasse, Maxim Biller und einige Andere manchmal als Berufsjuden, die durch die Talkshows wandern. Mit einem ironischen Lächeln merkte sie an, dass sie selbst gleich mehrere Punkte abdecke, Frau, Jüdin, Migrantin.

In den Talkshows könne sie keine Lösung gegen den zunehmenden Antisemitismus anbieten. Gerne würde sie bei einer Talkshow mit Mesut Özil über Heimat sprechen, über das was ihm im Sommer passiert sei. Die Zweistaatlichkeit habe sich bei ihm so manifestiert. In einem gewissen Maße glaube sie ihm, so wie sie immer irgendwie als verantwortlich für die israelische Politik sei, obwohl sie selbst nichts von Netanjahu halte.

Heimat sei dort, wo man Zuhause sei – aber was repräsentiere man wo, sei für sie ein interessanter Gedanke. Als Bürger zweier Staaten sei Mesut Özil für sie ein interessanter Fall, aber es stelle sich auch die Frage, ab wann man ein Thema ausreize. Generell glaube sie, dass die Gesellschaft schon weiter sei, aber der Fußball noch nicht. Auch z.B. in Frankreich hätten Sportler von ähnliche Erlebnissen bzw. Gefühlen berichtet.

Auf die Frage, wie man mit Rechten reden könne, antworte Adriana Altaras, dass es schwierig sei. Wie bei einem Wasserglas, in das ein wenig Tinte komme. Die Tinte sehe man immer. Wenn aber umgekehrt ein wenig klares Wasser in ein Glas voller Tinte komme, sehe man kaum einen Unterschied. Sie bewundere Angela Merkel, wie sie das Alles durchziehe, vor allem in Anbetracht der anderen Partei, die sie an der Backe habe.

Dann las Adriana Altaras ein weiteres Kapitel, in dem eine Bewerberin am Theater einen Monolog von Antigone vorträgt.

Das Foto auf dem Buch sei auf einer Anhalterreise durch Chile entstanden und sie empfinde es als passend zu der Geschichte von Sissele.

Praktisch alle Figuren hätten reale Vorbilder, aber einiger Namen habe sie „wegen der Anwälte“ geändert.

In der nächsten Zeit sei sie eher am Theater aktiv, plane jedoch auch, ein weiteres Buch zu schreiben. Aktuell habe sie sich um ein Stipendium für die USA beworben. Sie schreibe überall, wenn es passe. In einem Zirkuswagen in Berlin, im Bett oder Zug und auch als sie durch Island reiste. Dort habe die Temperatur bei 11 Grad gelegen und trotz der heißen Quellen sei es ihr zu kalt gewesen. Während ihrer sechs Wochen dort habe sie niemanden kennengelernt und so viel Zeit zum Schreiben in diesem wunderschönen Land gehabt.

Derzeit beschäftige sie sich damit, wie ein Künstler in Würde altere. Es gebe keine schönere Leidenschaft als die für das Theater. Sie stelle sich die Frage, ab wann sie peinlich werde, wie ein alter Intendant, der nicht abdanke. Ihre Kinder und das Publikum seien vermutlich kein Seismograph dafür, denn ihre Kinder fänden sie seit knapp 50 Jahren peinlich und das Publikum gehe auch zu Mario Barth.

Die Moderatorin bedankte sich ausführlich dafür, dass Adriana Altaras sich die Zeit für diese Veranstaltung nahm, obwohl sie am folgenden Tag eine Premiere am Theater habe und wünschte viel Glück. Adriana Altaras beschrieb das Chaos und die Anspannung vor der Premiere, aber das gehöre dazu.

Viel zu schnell war eine interessante und oft humorvolle Stunde vorbei. Im Anschluss nahm sie sich viel Zeit beim Signieren.

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Lesung Philipp Schwenke, 14.10.2018, Zeche Zollverein Essen

©Kiepenheuer&Witsch

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Die Geschichte von Karl Mays Orientreise 1899 beruht dabei auf Tatsachen. Und auf alternativen Tatsachen. Und auf Tatsachen, die auf jeden Fall wahrer sind als alles, was Karl May selbst je behauptet hat.

Nachdem Philipp Schwenke ein Jahr zuvor an gleicher Stelle eine Lesung mit Nick Hornby moderiert hatte, saß er dieses Mal auf der Autorenseite – dort müsse man sich nicht so vorbereiten, müsse er sich keine Fragen ausdenken.

Auf der Suche nach einem Thema, bei dem man den Boden der Tatsachen verlassen könne, sei er auf Karl May gekommen. Statt Lügenpresse würde ein Journalist dann Prosa schreiben. Sein Vater sei ein großer Karl May Fan und als Kind sei er oft in Bad Segeberg gewesen, habe Pierre Brice dort mehrfach gesehen. Als Erwachsener habe er das alles aus den Augen verloren und sich erst nach dem Tod von Pierre Brice wieder damit beschäftigt. Karl May sei bereits 1912 gestorben und in den letzten zehn Jahres seines Lebens sei er sehr aktiv gewesen. Zwar habe er lange vermittelt, er selbst sei Old Shatterhand, sei jedoch tatsächlich erst mit 57 Jahren das erste Mal in den Orient gefahren, bewaffnet mit einem Badeker Reiseführer. Diese Reise sei eine totale Enttäuschung gewesen.

Das Arbeitszimmer von Karl May war vollgestopft von Erinnerungstücken an seine (angeblichen) Reisen. Ein ausgestopfter Löwe, Möbel aus aller Welt und der Henrystutzen. Damals hätte man ihm seine Geschichten geglaubt, obwohl er nur 1,66m groß war und keine breiten Schultern hatte. Philipp Schwenke sieht sich selbst als Karl May Fan, aber als noch größerer Fan der Cohen Brüder und es gebe nichts tragischeres und Komischeres als Männer, die sich selbst überschätzen.

Bis vor kurzem habe er so gut wie nichts über die Reisen von Karl May gewusst, sei sich aber sicher gewesen, dass es sich um einen großartigen Fall von Selbstüberschätzung handele. Karl May habe eine sehr komplexe Persönlichkeit gehabt, sei aus ärmlichen Verhältnissen gekommen und die Erwartungen an den einzigen Sohn seien erdrückend gewesen. Nachdem er auf die schiefe Bahn geriet, psychische Krankheiten und das Gefängnis hinter sich gelassen hatte, baute er sich später eine bürgerliche Existenz auf und wurde der beliebtestes Autor des Kaiserreichs. Seine Beliebtheit habe sogar noch angehalten, nachdem seine Lügen aufflogen.

Dann las Devid Striesow mit sichtlichem und hörbarem Vergnügen eine Passage vom Anfang der Schiffsreise, die in Genua begann. Karl May trifft beim Abendessen auf Leser und einen Zweifler… der Beweise fordert, dass Karl May tatsächlich 800 Sprachen kann. Mit viel Hingabe und Gestik deklamierte Devid Striesow das fiktive chinesische Gedicht – bis er und das Publikum sich die Lachtränen aus den Augen wischen mussten.

Philipp Schwenke entschuldigte sich bei Devid Striesow, denn beim Schreiben habe er nichts von einem Hörbuch geahnt und nicht nur Passagen in fiktivem Chinesisch einflochten, sondern auch noch zum Beispiel Georgisch, einer Sprache, die scheinbar alle Konsonanten der Welt aneinanderreihe.

Zu Karl Mays Lebzeiten sei viel weniger über den Rest der Welt bekannt gewesen. Es habe keine Auslandskorrespondenten und nur wenige Auswanderer gegeben. Die Geschwindigkeit von Informationen sei nicht so schnell wie heute und auch heute würden Menschen noch auf Hochstapler hereinfallen. Es erstaune ihn immer wieder, wie lange Hochstapler heutzutage noch durchkämen. Allerdings gebe es auch bessere Möglichkeiten für weitreichenden Betrug. Es reiche eine gut aussehende Webseite, damit man alle Ersparnisse von jemandem bekomme, dessen Wunschdenken stärker sei als Zweifel an den versprochenen 10% Rendite.

Karl May habe einen tiefliegenden Wunsch des Kaiserreichs bedient. Deutschland sei damals eine junge Nation gewesen und politisch kaum von Wert. Ein unbesiegbarer Held, vor dem alle Achtung hatten, kam da gerade recht. Old Shatterhand sei das Ideal vieler gewesen, attraktiv mit immensem Moralbewußtsein, christlich orientiert und jemand, der seine Feinde nur verurteilte, jedoch nie tötete.

Auf seiner Orientreise habe Karl May zwei Nervenzusammenbrüche erlitten, nicht zuletzt, weil er feststellen musste, dass er nicht Old Shatterhand sei.

Philipp Schwenke arbeitete fünf Jahre an dem Roman. Karl May sei ein Narzisst gewesen. Heute wäre er bei Facebook und Instagram sehr aktiv, wo wir uns alle viel spektakulärer darstellen würden. Im November 2016 sei dann jemand in das Weiße Haus gezogen, der bizarre Ähnlichkeit zu Karl May habe. Beide hätten ein schwarzes Loch in ihrer Seele, das sie durch Aufmerksamkeit Anderer füllen würden, die sie durch Flunkereien erringen. Beim Schreiben von „Das Flimmern der Wahrheit über der Wüste“ habe er immer gedacht, dass Karl May seine Lügen doch nicht selbst geglaubt haben könne. Aber dann sei Donald Trump gekommen und seine Geschichte über die Anwesenden bei seiner Amtseinführung – trotz klarer Fotobeweise. Beide hätten auf ihren Versionen und Urteilsfähigkeit gepocht.

Während Karl May in Kairo vielleicht noch nicht einmal das Schiff verlassen habe, sei für Devid Striesow im Tonstudio extra eine authentische Atmosphäre geschaffen worden. Wüstenartige Hitze ohne Klimaanlage und trotzdem habe er den Roman wunderbar eingelesen.

Es folgte eine Textpassage, auf der Karl May sich durch das Gewusel eines Bazars in Kairo wühlt.

Als Kind habe er die Werke Karl Mays anders gelesen als heute, wo er um die Stärken und Schwächen wisse. Seine Gefühle seien komplexer als schlichtes Fantum (sic), denn beim Schreiben des Romans habe er ihn manchmal in den Arm nehmen wollen und manchmal schütteln. Er sei nach wie vor ein Fan dessen, was in den 1960ern aus Karl Mays Büchern wurde, insbesondere der Europa Hörspiele, auch wenn er heute deutlich höre, dass der Häuptling der Kiowa aus dem Rheinland gekommen sei.

Eigentlich habe er sich vorgenommen, während des Schreibens die kompletten Werke Karl Mays zu lesen, habe es jedoch nur bis zur Hälfte geschafft. Dafür habe er sehr viel über Karl May gelesen und insbesondere seine Romane über den Orient und sein Alterswerk. „Frieden auf Erden“ sei leider eines der schlechtesten Bücher, die Philipp Schwenk je gelesen habe. Biographisch sei es interessant, weil man deutlich die Sehnsucht nach Anerkennung herauslesen könne.

Er bedankte sich ausführlich bei der Karl May Gesellschaft und habe auf dem Grabstein Karl Mays zwei Indianerfedern abgelegt. Gleichzeitig könne er Alle verstehen, die seinen Roman als Ketzerei empfänden. Es sei ein Reiseroman, aber auch ein Eheroman. Während Karl May im Orient unterwegs war, bezichtigten ihn in Deutschland die ersten Zeitungen der Lüge und Pornografie.

Der Moderator merkte an, dass es abertausende Seiten an Sekundärliteratur über Karl May gebe, aber Philipp Schwenke sei der erste, der Karl May ins Schlafzimmer gezerrt habe. (Diese Passage wurde zur großen Belustigung aller Anwesenden vorgelesen.)

Am Ende seines Lebens habe Karl May eine Art Abrechnung mit seiner Frau geschrieben. Auf diesem Text mit dem Titel „Emma Pollmer, eine psychologische Studie“ beruhe diese Szene. Karl May habe von der Perversion seiner Frau gesprochen, die sich wie ein Mann verhalte.

Zum Abschluss wurde der Kauf des Buchs und Hörbuchs empfohlen, sowohl der Autor als auch Sprecher nahmen sich Zeit zum Signieren und für weitere Fragen, während des äußerst gut gelaunte Publikum nach und nach den Saal verließ.

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Hörprobe 15 Minuten bei Youtube *klick*

Hörproben bei roofmusic audible

Das Hörbuch hat 20:15 Stunden, das Buch 608 Seiten.

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Lesung Dörte Hansen, 12.10.2018, Römerhalle Frankfurt

Mittagsstunde von Doerte Hansen ©Penguin

Mittagsstunde von Doerte Hansen
©Penguin

Zu Beginn wurde Dörte Hansen in der bis auf den letzten Platz besetzten Römerhalle kurz vorgestellt und ihr erster Roman Altes Land, der über Leserempfehlungen zum Bestseller geworden sei, nicht über massive Werbung des Verlags. Mittagsstunde sei in gewisser Weise eine Fortsetzung, der Schauplatz ein fiktives Dorf in Norddeutschland, wo die Menschen eher wortkarg seien.

Dörte Hanse erwiderte, dass sie Norddeutsche nicht als wortkarg empfinde, eher im Gegenteil als gesprächig. Plattdeutsch hätte früher eine ganze andere Rolle gespielt, weil viele nicht so gut Hochdeutsch konnten. Dialekt zu sprechen sei verpönt gewesen und man habe schnell als ungebildet gegolten. Heute sei es umgekehrt und man werde hofiert, sobald ein Einschlag von Dialekt zu hören sei – was auch nicht so toll sei.

Zuerst wurde die Figur der Marret Feddersen vorgestellt, ziemlich genau in der Mitte zwischen verrückt und normal. In jedem Dorf habe es so jemanden gegeben. Marret gehe durchs Dorf und verkünde den Weltuntergang. “De Welt geiht ünner.” Auf dem Dorf arrangiere man sich mit solchen Menschen, auch Marret sei keine Außenseiterin.

In der vorgelesenen Passage lernten die Zuhörer nicht nur Marret kennen, sondern auch ihre Vorhersagen und die Figuren aus dem Dorf, denen sie auf einem ihrer Rundgänge begegnet.

Durch die Flurbereinigung in den 1950er und 60er Jahren sei im dörflichen Bereich eine Welt untergegangen. Kleine Felder seien zu großen zusammengelegt worden, Feldwege wurden asphaltiert, Bäche begradigt und all dies sei mit einer enormen Wucht geschehen. Damals habe man die Natur besiegen wollen, der Fortschrittglaube jener Zeit wollte alle schnell in die Moderne führen. Plötzlich konnten die Dorfkinder nicht mehr auf der Dorfstraße spielen, weil diese mehrspurig asphaltiert wurde, LKWs und PKWs durch die Dörfer rasten. Dörte Hanse hat das Gefühl, dass damals jedes Dorf ein Kind der Moderne geopfert habe.

Natürlich habe es auch einige wenige Skeptiker gegeben. Sie erzählte von einem Dorfschullehrer, der die Einebnung eines Hühnergrabhügels verhindert. Natürlich sei zuerst die Begeisterung über größere und hellere Häuser groß gewesen. Erst später habe man festgestellt, dass einmal Zerstörtes unwiederbringlich verloren war. Durch die Begradigungen, Trockenlegungen und großen Monokulturen verschwanden die Hasen, Frösche und Störche. Man sei damals über das Ziel hinausgeschossen.

Dann seien Städter gekommen, mit dem Ziel, die eine Dorfkultur wiederbeleben. Oft sehe man von außen klarer. In den 1970ern kamen Künstler von der Stadt aufs Land, auf einer nostalgischen Suche nach einem Ort, den es nicht mehr gab. Es habe viel Unverständnis zwischen Dörflern und Städtern gegeben.

Die alten Feddersens in Mittagsstunde führen auch mit Anfang 90 noch ihren Gasthof, wollen nicht aufgeben und können ihn nicht an den in der Großstadt lebenden Enkel übergeben. Das sei allzu oft so. Die Jugend ziehe weg und fühle sich gleichzeitig als Verräter. Dörte Hansen betonte, dass sie nicht werten wolle, denn sie könne auch verstehen, warum Menschen aus den Dörfern wegzogen.

Heutzutage würden sich die kleinen Höfe kaum noch tragen. Der trockene Sommer 2018 habe jedoch gerade die Besitzer großer Höfe in Angst und Schrecken versetzt, weil sie Probleme hatten genügend Futter zuzukaufen. Das sei bei den kleineren Höfen oft anders organisiert und so sei die Frage aufgekommen, ob kleinere Höfe vielleicht doch sinnvoller seien.

In der nächsten vorgelesenen Textpassage wurde Ingwer Feddersen vorgestellt, der sich als 47-Jähriger an seine Jugend im Dorf erinnert und an die Bedeutung der Mittagsstunde für die Kinder. Denn niemand könne leiser sein als Kinder, die auf dem Dorf groß geworden seien.

Dörte Hansen und Vladimir Balzer erinnerten sich beide an die Freiheiten, die Dorfkinder in der Mittagsstunde hatten – solange sie die schlafenden Erwachsenen nicht weckten. Das Dorfleben sei hart gewesen und der Mittagsschlaf für die Erwachsenen wichtig, während die Kinder die Freiheit genossen. Details wollten sie irgendwie nicht erzählen.

Bei der Namenswahl achte sie darauf, nicht die Namen all ihrer Nachbarn oder Verwandten zu nehmen. Der Name Ingwer Feddersen passe ihrer Meinung nach zu dieser Figur und sie habe niemanden mit diesem Namen gekannt. Neulich habe sie dann in einem Dorf einen Grabstein mit just diesem Namen gesehen, aber das lasse sich nie vermeiden.

Nicht alle im Dorf seien nostalgisch mit ihrer Heimat verbunden. In Mittagsstunde ist es die Bäckerstochter, die viel liest und das Dorf mit Vehemenz hasst. Eines Tages zieht sie weg und hört auch auf, Platt zu sprechen. Dörte Hansen merkte mit einem Augenzwinkern an, dass diese Figur zwar auch ein störrisches Pony habe, aber deutlich energischer als sie selbst sei.

Früher habe sie sich bei goldenen Hochzeiten gefragt, ob man fröhlich sei, noch zusammen zu sein oder weil man durchgehalten habe. Das Ehepaar in Mittagsstunde rede wenig, die Frau sei inzwischen dement und das habe ihren Charakter stark verändert.

Dörte Hansen ist Soziolinguistin und hat sich mit dem Thema Demenz und Wortschatz intensiv beschäftig. Ein gewisser Grundwortschatz bleibe immer, wobei die Älteren oft lieber Platt sprächen. In ihrer Heimat habe Plattdeutsch über einen deutlichen Imagegewinn erholt und sie habe von Anfang an konsequent mit ihrer Tochter Platt gesprochen. Für ihre Tochter sei das oft lästig gewesen, weil von Außenstehenden immer eine Reaktion gekommen sei, sobald sie miteinander Platt gesprochen hätten. Mit dem künstlichen Platt in der Schule habe ihre Tochter nichts anfange können.

Inzwischen sei ihre Tochter 16, habe kein Problem damit Platt zu sprechen und wünsche sich, dass Plattdeutsch als normal wahrgenommen werden, ohne Aufsehen zu erregen. Dörte Hansen empfindet es als eine gewisse Zweisprachigkeit, über die Menschen miteinander verbunden seien.

Mit den Dorfkneipen, Dorfschulen usw. seien oft die sozialen Treffpunkte verschwunden, doch inzwischen gebe es sehr aktive Vereine, die neue Möglichkeiten schaffen würden. So sei ihre alte Grundschule inzwischen durch den örtlichen Tischtennisverein zu einem Treffpunkt geworden. Solche Orte seien für das Dorfleben und auch das Überleben der Dialekte wichtig. Ihrem Empfinden nach ist die Talsohle für die Dörfer durchschritten, es kehre neues Leben ein, zum Teil auch weil Städter durch die hohen Mieten mit ihren Kindern weit hinaus aufs Land ziehen. Heute sei es nicht mehr so gespenstisch still wie noch vor einigen Jahren.

Es folgte eine weiter kurze Lesung. Der Dorflehrer in Mittagsstunde hadere mit den neuen Kindern an seiner Schule, die durch den Zuzug von Städtern kamen. Er steht kurz vor der Rente und glaubt weder an Chancengleichheit noch an gewaltfreie Erziehung. Karl Fidel Baumann aus Berlin hat ihm da gerade noch gefehlt…

Dörte Hansen schilderte, dass es wirklich sehr hart sei, nach einem unerwarteten Erfolg wie Altes Land dann den zweiten Roman zu schreiben. Über einige Rückmeldungen, dass man dem zweiten Roman diesen Kampf nicht anmerke, habe sie sich sehr gefreut. Diese von anderen empfundene Leichtigkeit sei hart erkämpft.

Beim ersten Roman sei die Frage gewesen, warum schreibst Du. Beim zweiten Roman hingegen sei zuerst die Frage gewesen, warum schreibst Du nicht. Die Geschichte habe sie gesucht, nicht umgekehrt. Über das Landleben zu schreiben sei irgendwie von selbst gekommen. Sie selbst habe sich gefragt, wie sich die Welt seit den 1960ern verändert habe, was damals gut gewesen sei und bei was sei es gut, dass es verschwand. Zum Glück habe sie eine gute Freundin und ihre Familie als kritische Erstleser, sowie ihre Lektorin. Ihre Familie wolle schließlich wissen, was sie so lange in der Dachkammer mache.

Dann wurde die lebendige und humorvolle Veranstaltung etwas früher als geplant beendet, damit noch genügend Zeit zum Signieren sei. (Unter anderem wurde ein Hörbuch signiert.)

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Lesung Liu Cixin, 14.10.2018, lit.RUHR

Foto: ottifanta

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Die mit „Vorhang auf für Chinas Science-Fiction-Superstar Cixin Liu“ angekündigte Veranstaltung fand in der ausverkauften Halle 2 der Zeche Zollverein statt. Rund ein Viertel des Publikums stammte aus der Heimat des Autors. Zu Beginn wurde Cixin Liu kurz vorstellt und eine Delegation des Konfuzius Instituts aus Peking besonders begrüßt. Der dunkle Wald ist der zweite Teil der Trilogie, die Fortsetzung zu Die drei Sonnen.

Die erste Frage lautete, wie wir uns auf den Erstkontakt zu Außerirdischen vorbereiten sollten.

Cixin Liu ist der Ansicht, dass es einerseits undenkbar sei, dass sie niemand ernsthaft damit beschäftige, andererseits eine Vorbereitung kaum möglich sei. Einmal sei ein hochrangiger Politiker zu ihm gekommen und habe nach entsprechenden Vorschlägen für den Nationalen Volkskongress gefragt, damit ein neues Institut für die Ausarbeitung einer entsprechenden Strategie gegründet werden könne. Dafür sei dieser Politiker von Anderen schallend ausgelacht worden.

Der Titel „Dunkle Wald“ stehe für die dunklen Ereignisse in diesem Band, für die Gefahren aus dem Weltraum. Es gebe verschiedene Möglichkeiten, wie eine fremde Gesellschaft im Kosmos aussehen könne – falls überhaupt eine existiere. In diesem Buch habe er die schlimmste dieser Möglichkeiten dargestellt. Dies sei jedoch weder die einzige noch die wahre Variante.

Dann las Mark Bremer (Sprecher der ungekürzten Hörbücher) eine längere Passage, in der die Zuhörer Zhang Yuanchao und seinen Nachbarn Lao Yang kennenlernen. Zhang Yuanchao ist gerade in Rente gegangen und politisch völlig desinteressiert, ganz im Gegensatz zu seinem Nachbarn, der alle möglichen Vorschläge hat, wie Zhang Yuanchao seine Zeit jetzt verbringen solle. Die Szene beginnt mit einem alltäglichen Gespräch, dann diskutieren im Fernsehen Politiker, wie man sich auf das Eintreffen der Außerirdischen in 400 Jahren vorbereiten solle. Unnötige Panik solle vermieden werden und ganz in diesem Sinne schaut Zhang Yuanchao lieber Fußball.

Liu Cixin stammt aus Yangquan in der Provinz Shanxi, einer Stadt mit nur einer Million Einwohner und weit entfernt von den Metropolen Peking und Shanghai. Als er die Grundschule besuchte, habe es wegen der Kulturrevolution nur wenige Bücher gegeben und er habe mit dem Begriff Science Fiction nichts anfangen können. Während der 1950er Jahre sei ausländische Science Fiction Literatur in China populär gewesen und sein Vater habe viele westliche Bücher gekauft. Obwohl sie während der Kulturrevolution verboten wurden, habe sein Vater sie behalten und während der Grundschulzeit habe Cixin Liu diese Bücher entdeckt. Erst Jahre später habe er von seinem Vater erfahren, dass die Reise zum Mittelpunkt der Erde kein Tatsachenroman sei, sondern ein beeindruckendes Beispiel für die menschliche Fantasie. Diese menschliche Kreativität habe ihn sehr beeindruckt und auch inspiriert.

Als er 13 war, endete die Kulturrevolution und es gab wieder ausländische Science Fiction Literatur in China – bis zur „Kampagne gegen die geistige Verschmutzung“ 1983, (Spiegel 1983 dazu, Wikipedia), die auch in diesen Büchern zu viel kapitalistischen Einfluss auf die Bevölkerung sah. Erst Mitte der 1990er Jahre sei es zum zweiten Wendepunkt für Science Fiction in China gekommen. Heute käme sogar der chinesische Vizepräsident Liu Yuanchao zu Science Fiction Veranstaltungen. Vermutlich weil die Regierung jetzt großen Wert auf Innovationen lege, ein Land voll innovativer Kreativität wolle. Er selbst hingegen glaube nicht, dass Science Fiction so instrumentalisiert werden könne.

Warum er nicht in Peking oder Shanghai lebe, denn das Klischee sei doch, dass Science Fiction Autoren in den modernsten Metropolen leben würden. Oder ob er zurückgezogen im eher abgelegenen Yangquan mehr kreative Freiheit spüre.

Cixin Liu erwiderte, dass die drei bekanntesten Science Fiction Autoren nicht in Metropolen gelebt hätten, Arthur C. Clarke zum Bespiel habe ein einem kleinen Fischerdorf in Sri Lanka gelebt. Science Fiction Autoren müssten technisch auf dem neusten Stand sein, aber das sei in China heute von überall möglich. Peking biete nicht die besten Lebensbedingungen, zu viele Menschen, Autos usw. Unser heutiges Leben komme ihm schon fast wie Science Fiction vor, auch weil er dann eine kurze Passage aus Der dunkle Wald nicht von Papier sondern seinem Handy las.

Im Anschluss las Mark Bremer einen weiteren Abschnitt so lebendig, dass es mittendrin begeisterten Applaus gab. Diesmal ging es um die Unterschiede zwischen den Menschen und den Außerirdischen, um Falschheit, eine Eigenschaft oder Kunst, die nur den Menschen zu eigen sei.

Ob er ein Misanthrop sei, weil die Menschen in seinen Büchern nicht gut wegkommen, war die nächste Frage. Seien Außerirdische die besseren Wesen, sowohl moralisch als auch intellektuell? Wenn man sich Menschen und Ameisen anschauen, dann könne es gut sein, dass Menschen gegenüber Außerirdischen wie Ameisen seien. Aber das könne man jetzt natürlich noch nicht wissen.Es gebe auf Chinesisch ein Sprichwort (水至清则无鱼, shuǐ zhì qīng zé wú yú), wenn das Wasser zu klar sei, schwimme kein Fisch darin. Menschen würde ihre Gedanken verstecken wollen und es sei eine besondere Fähigkeit der Menschen, die sie ihre Zivilisation so haben aufbauen lassen. Das Denken der Außerirdischen in „Die drei Sonnen“ sei völlig transparent und es sei fraglich, ob das zu einer höheren Zivilisation führen könne. Wo wären die Tagträume, wenn alle unsere Gedanken offen wären und würde das wirklich zu höherer Kreativität führen fragte Cixin Liu ins Publikum.

Vor einiger Zeit habe er einen amerikanischen Roman gelesen, in dem die praktisch gesamte Bevölkerung von einem Lügendetektor überwacht wurde und so irgendwann immer die Wahrheit gesagt wurde. Letzten Ende habe der Erfinder des Lügendetektors die Menschheit retten müssen, weil er als Einziger nicht ans System angeschlossen war.

Der immer schnellere technische Fortschritt sei ein zweischneidiges Schwert. Einerseits gebe es daraus viel Inspiration, andererseits würden Bücher langweilig, wenn die darin beschriebenen Innovationen plötzlich im echten Leben verfügbar seien. So habe er viele Science Fiction Bücher gelesen, in denen mobile Kommunikation eine Rolle spielte, aber das IPhone sei besser als all diese Fantasieprodukte. Science Fiction Literatur sei vor 200 Jahren durch Bewunderung des technischen Fortschritts entstanden und er könne sich vorstellen, dass dieser in weiteren 200 Jahren zum Tod der SF Literatur führen könne. Alle Science Fiction Autoren seien sich dieses Risikos bewusst und würden daher unter enormem Druck stehen, immer schneller und trotzdem auf hohem literarischen Niveau zu schreiben.

Dann las Mark Bremer einen dritten Ausschnitt aus Der dunkle Wald.

Es folgte eine Frage zu seinen Ansichten über das Sozialkreditsystem in China, bei dem die chinesische Regierung zahllose Daten der Bürger sammelt und bewertet, inklusive des Sozialverhaltens im Straßenverkehr, den eigenen Eltern gegenüber usw. (Zeit und FAZ dazu). Je nach Punktestand hat man dann gewisse Vorteile oder Nachteile wie z.B. eine Einschränkung der Reisefreiheit. Der Moderator verglich die chinesische App WeChat mit einem Schweizer Taschenmesser, das gleichzeitig alle Daten an die Regierung weiterleite. In den westlichen Medien werde das Sozialkreditsystem sehr kritisch gesehen und ihm selbst stelle sich die Frage, ob China eher allgemein wie Science Fiction sei oder wie eine Dystopie.

Cixin Liu antwortete, dass auch hier in Europa und den USA das Leben zunehmend durch die Digitalisierung bestimmt werden, nur die Strenge der Datenkontrolle sei momentan unterschiedlich. Und er mache sich keinerlei Sorgen, dass die Technologisierung unser Leben überrollen könne. Fortschritt habe immer auch Schattenseiten, aber er sehe die Sonnenseite. Die Digitalisierung könne unser Leben demokratischer gestalten. Fast jeder in China habe Zugang zum Internet. 1,3 Milliarden Stimmen im Internet, das sei eine unvorstellbare Kraft und so sei das Volkes durch das Internet sehr stark, würde politische Entscheidungen beeinflussen. Dank des Internets gebe es mehr Möglichkeiten für den Einzelnen, online seine Meinung kundzutun.

Natürlich würde die technologische Weiterentwicklung unser Leben berühren, aber gleichzeitig glaube er an die Demokratisierung durch die Digitalisierung. Für die Menschen im Westen sei das nicht so spürbar, weil wir es gewohnt seien, unsere Meinung frei sagen zu können. In seinem nächsten Buch, das auch bald auf Englisch erscheine und dessen Titel er nicht nennen konnte, ginge es um das Entstehen von Demokratie durch Digitalisierung.

Einen Termin für die von Amazon geplante Verfilmung gebe es noch nicht und er habe aus den Medien davon erfahren, genau wie von der angeblich vereinbarten Summe. Es gebe zwar tatsächlich Gespräche, aber er sei sich nicht sicher, ob das alles umsetzbar sei. Sowohl ein Betrag auch Details zu technischen Umsetzung stünden noch nicht fest.

Zum Schluss fragte der Moderator nochmal, ob er wisse, wann Außerirdische auf die Erde kämen. Liu Cixin erwiderte, dass könne morgen früh sein oder in 10.000 Jahren. Wenn man genau darüber nachdenke, solle man nicht darauf warten, sondern eine Gänsehaut bei dem Gedanken daran haben. Denn wir wären auf jeden Fall unvorbereitet und könnten vermutlich nicht beurteilen, wie intelligent sie seien.

Was sehe eine auf dem Boden krabbelnde Ameise in uns. Sie fände uns vermutlich seltsam, denn wir schützen keine Königin, bringen keine Beute zurück und graben keine Löcher im Boden zum Lagern, sondern schauen nur den ganzen Tag auf eckige Gegenstände. Der Unterschied zwischen Menschen und Außerirdischen sei noch deutlich größer als zwischen Menschen und Ameisen. Der davon ausgehenden Gefahr solle man sich bewusst sein.

Damit endete die knapp zweistündige Veranstaltung und Liu Cixin signierte noch so schnell wie möglich die Bücher, vor allem der zahlreichen ungeduldig wartenden chinesischen Fans.

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