[singlepic id=1148 w=320 h=240 float=left]Sehr geehrter Herr Glanert, vielen Dank, dass Sie sich die Zeit genommen haben, uns ein Interview zu geben. Sie haben die Oper Joseph Süß komponiert. Würden Sie uns als erstes etwas zu Ihrem Werdegang erzählen?
Ich bin 1960 in Hamburg geboren, habe keinen sonderlich musikalischen Elternhaushalt gehabt – eher bildungsbürgerlich, mein Vater war einer, der ein Abonnement an der Oper und fürs Konzert hatte, wie sich das damals gehörte. Das hat mir wunderbar gefallen. Ab dem ersten Moment, wo er mich in die Oper mitgenommen hat – ich glaube, es war die Zauberflöte – bin ich dem verfallen gewesen. Meine zweite Oper war übrigens Die Soldaten von Zimmermann, die ich damals so schrecklich fand, dass ich sechsmal hingegangen bin. Und seitdem habe ich es geliebt, bis heute, es ist ein grandioses Werk. Ich habe dann in der Schule das Glück gehabt, zwei sehr gute Musiklehrer zu haben, die mich sehr förderten. Ich habe selber aber kein Instrument gespielt, bei uns zuhause gab es keinen Platz für ein Klavier, und habe dann mit Trompete bei der Feuerwehrkapelle angefangen. Später habe ich dann auf Tenorhorn gewechselt, aber in der Schule lernte ich dann mein Hauptinstrument: Kontrabass. Damit war ich dann auch im Schulorchester und in diversen Jugendorchestern tätig, vor allen Dingen im Hamburger Jugendorchester. Das ist gar nicht mal so unwichtig, weil ich von dieser praktischen Seite ein Orchester von innen kennengelernt habe. Wie das zusammenhängt, wie das funktioniert, wie Instrumente gehen, wo die Spieler Mühe haben und wo die Spieler sehr einfach Dinge produzieren können. Und gleichzeitig – so mit elf, zwölf, glaube ich – habe ich angefangen, zu komponieren. Die ersten Aufführungen fanden mit dem Schulorchester statt. Mein Vater hat mich dann prüfen lassen, ob das einen Studiengang wert ist, und der Prüfer hieß Diether de la Motte, da war ich fünfzehn. Er hat das nicht nur positiv entschieden, sondern hat auch gesagt, daß ich das Studium später bei ihm beginnen könnte. So habe ich das große Glück gehabt, bei Diether de la Motte einsteigen zu können in die Welt der Komposition. Das war ein wunderbarer Lehrer für den Beginn. Er ging dann weg aus Hamburg. Später bin ich dann zu Henze gegangen, auf Anraten von einem guten Freund. Bei Henze war ich dann tatsächlich vier, fünf Jahre.
Jetzt zu dem Joseph Süß. Das war ja ein Auftragswerk. War damals festgelegt in Bremen: speziell dieses Werk? Oder konnten Sie da frei entscheiden? Oder war das ein Vorschlag vom Haus?
Das war eine sehr lustige Geschichte, die auch der Intendant von damals, Herr Pierwoß, sehr gerne erzählt. Und zwar hatte ich aus purem Zufall fünf Jahre vorher das Buch von Feuchtwanger gelesen und war begeistert, gerade von diesem dramatischen Sog, den dieser Roman hat, und ich dachte mir: das wäre doch phantastisch, wenn man einen solchen Sog auf die Bühne bringen könnte, der von A nach Z wirklich in einem durchgeht, mit einem Thema, das uns alle angeht. Und dann rief mich der Herr Pierwoß an und fragte, ob ich Lust hätte, eine große Oper zu schreiben, und ob wir uns mal treffen sollten. Das haben wir gemacht, und dieses Gespräch dauerte, glaube ich, zwei Minuten. Er fragte mich nämlich, ob ich Lust hätte, Joseph Süß zu machen, und ich habe Ja gesagt. Ab da haben wir nur noch Rotwein getrunken. All der Rest, also das Honorar, die Librettofrage und so weiter, die kamen später. Das war das kürzeste Auftragsgespräch, das ich je hatte.
Wie kam Joseph Süß dann hier ans Gärtnerplatztheater in München?
Das hat vielfältige Gründe gehabt. Das Stück wurde ja in Bremen uraufgeführt, kam dann nach Regensburg und dann nach Heidelberg, das war die dritte Inszenierung. Dann ist es eine ganze Weile nicht gespielt worden. Plötzlich gab es drei Inszenierungen hintereinander weg: Trier, Krefeld und Mönchengladbach, München. Guy Montavon und Ulrich Peters haben, glaube ich, unabhängig voneinander das Stück kennengelernt, ich weiß aber nicht, wo, das kann ich nicht sagen. Sie wussten aber über das Stück erstaunlich gut Bescheid. Vielleicht haben sie es in Regensburg oder in Heidelberg gesehen. Dann kam Roger Epple ins Spiel – er war ja der Uraufführungsdirigent von Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung zwei Jahre später in Halle – zu dem ich sowieso einen sehr guten Draht hatte, er kannte das Stück vom Lesen. Nun wollte es eben der Zufall, dass Peters, Montavon und Epple eine Konkordanz gebildet haben hier am Gärtnerplatztheater. Das war zuerst für Freischütz, Epple und Gärtnerplatz; Montavon und Epple haben aber auch schon andere Produktionen zusammen gemacht. Nun hat Peters Montavon eingeladen, Montavon fragte Peters nach einem Dirigenten, und der sagte: Epple. Und dann kam sehr schnell mein Stück ins Spiel. Das sind diese kommunizierenden Röhren.
Welche Besonderheiten gibt es gerade in Joseph Süß?
Besonders finde ich die Struktur der Erinnerung: Die Setzung des Librettisten Werner Fritsch ist gewesen, dass wir die Quasi-Realzeit vor der Hinrichtung im Kerker erleben, und dieser Kerker ist erfüllt mit Erinnerungen an das Vergangene und letzten Besuchen, Leute, die ihn im letzten Moment retten wollen oder Verhöhnungen, wenn zum Beispiel der Herzog mit dem Schlaganfall noch einmal kommt. Beide Zeitstränge werden dann zusammengeführt in dem Punkt der Hinrichtung. Das war die Grundidee, und so eine strikte Dramaturgie hatte ich noch nie, in dieser Strenge. Das fand ich für einen Einakter eben ganz fabelhaft.
Und musikalische Besonderheiten?
Ich wollte eine Art eigene Barockmusik erfinden und habe darum das Orchester ausgedünnt und alle “weichen” Instrumente entfernt. Dahinter steht noch eine Phantasie: Ich hatte mir ein Orchester vorgestellt nach dem Arbeitsverbot für Juden 1935. Die deutschen Orchester hatten große Schwierigkeiten, die Lücken zu füllen. Es ist also tatsächlich ein gewollt lückenhaftes Orchester. Jede Rolle hat ihren eigenen Klangbereich: der Herzog ist immer mit Trompeten und Posaunen versehen, das steht für seine militärische Brutalität. Er war ja als Herzog gar nicht vorgesehen, aber sein Bruder starb viel zu früh, und er ist ja sozusagen vor Belgrad auf den Schlachtfeldern groß geworden und dort sozialisiert worden. Magdalena ist begleitet mit Oboen, Englisch-Horn, Melancholie … sie und Süß bilden das einzig wahre Liebespaar. Naemi, die Tochter von Süß, hat sehr durchsichtige, fast ätherische Klänge, es sind nur Flageoletts und Vibrafon mit Bogen gestrichen. Ich habe mir da ein ganz zartes Mädchen vorgestellt, das also gerade auf dem Weg zur Pubertät ist, also fast noch gar keinen Körper hat. Das sind Beispiele, wie ich mit musikalischen Charakterisierungen versucht habe zu arbeiten.
Die Anmerkungen von Ihnen, wie Sie sich eine Inszenierung ihrer Oper vorstellen – geben Sie da den Regisseuren vorher Tipps, oder überlassen Sie das erst mal ganz dem Regisseur?
Das ist eine sehr schwierige Frage. Ich habe natürlich eine genaue Vorstellung, wie meine Opern aussehen sollen, aber diese Vorstellung ist irreal, sie ist quasi nicht zu realisieren. Das kommt auch aus Traumbildern und anderen Vorstellungen. Auf der anderen Seite habe ich eine ganz allgemeine Idee, wie eine Oper auszusehen hat; das kommt durch meine persönliche Sozialisierung, ich bin geprägt worden an der Hamburgischen Staatsoper in den Siebzigern und Achtzigern und an den Berliner Opern. Dann gibt es eine dritte Ebene, das ist die akustische, und eine vierte Ebene, das ist die dramaturgische. Die akustische Ebene ist ein ganz großes Problem. Denn Sie wissen genau: Wenn man Sänger nach hinten singen lässt, oder sie hinten stehen hat, versteht man nichts mehr. Manchmal haben Regisseure dieses unglaubliche Händchen, die lautesten Stellen, die kompliziertesten Stellen genau da hinten zu inszenieren, und ich weiß nicht, woher das nun wieder kommt. (Lacht.) Das sind so Sachen, da greife ich ein, indem ich darüber rede, denn ich habe ja kein Befehlsrecht. Und die vierte, die dramaturgische Ebene, ist für mich die des Timings und der erzählerischen Klarheit, des wirklich präzisen Erzählens. Ich behaupte nicht, dass jeder im Publikum sofort alles verstehen muss, aber es muss die Möglichkeit geben, es zu dechiffrieren. Für meinen Geschmack neigen viele Regisseure dazu, Generalpausen und Zäsuren zu überdehnen, weil sie da Morgenluft wittern für das sogenannte freie Spiel. Deshalb achte ich sehr darauf, dass es keine Spannungsabfälle gibt. Solche Dinge finde ich wichtig, vor allem diese vier Punkte.
Wie ist das, Ihre Zusammenarbeit, wenn Sie bei den Proben dann selber da sind, mit Dirigent und Orchester? Wenn man sich nicht so gut kennt wie jetzt?
Ich lerne den Dirigenten viel früher kennen als das Orchester und beruhige sie meist gleich beim ersten Treffen, dass ich kein “Dazwischenbrüller” bin, der die Proben stört. Ich schreibe während der Probe Zettelchen, viele kleine Zettelchen, und in der Pause, oder wenn eine größere Umbau-Unterbrechung ist, gehe ich kurz nach vorne und bespreche mich mit dem Dirigenten. Das betrifft dann immer drei Gruppen: Es betrifft den Dirigenten selber, das machen wir unter vier Augen, da geht es um Tempo-Fragen, Übergangsfragen. Es betrifft die Sänger, das mache ich dann separat, oft mit den Assistenten. Und dem Orchester kann man sicher bei irgendwelchen Umbaupausen immer rasch Sachen mitteilen. Zum Beispiel hat das Gärtnerplatztheater eine sehr spezielle Akustik und einen relativ lauten Graben. Da muss man ein bisschen dämpfen, und ich habe auch ein paar Instrumente aus der Partitur herausgenommen oder dynamische Zeichen geändert.
Das ist ja auch schwierig mit der Seitenloge, der Klang da.
Das ist schwierig. Das finde ich ein bisschen schade, ich hätte mir die Bühnenmusik tatsächlich auf der Bühne gewünscht. Aber mal gucken, vielleicht kann man das in Münster oder in Erfurt noch nachholen, vielleicht haben die nutzbare Seitenbühnen, die es am Gärtnerplatztheater nicht gibt.
Sie haben die sechs Produktionen schon angesprochen. Waren die sehr unterschiedlich von den Auffassungen?
Eine habe ich nicht gesehen, aus Zeitmangel, das war die in Trier. Aber nach den Fotos zu urteilen waren sie vollkommen unterschiedlich, alle sechs. Sie haben manchmal merkwürdigerweise gleiche Elemente, auf die sind alle sechs Regisseure gekommen. Aber es freut mich sehr, dass die Produktionen so unterschiedlich sind, weil offensichtlich jeder Regisseur etwas fand, was seine Phantasie belebt hat. Es gab alles, von ganz realistisch bis ganz streng. Die hier am Gärtnerplatztheater ist relativ realistisch, ähnlich wie in Heidelberg. Aber es ist immer ein sehr sehr tolles Phantasiebarock herausgekommen. Nicht ein Barock wie wir es uns gewöhnlicherweise vorstellen, sondern eine düstere Zeit, eine wilde Zeit, auch eine gefährliche Zeit – wo sehr, sehr reich und sehr, sehr arm sehr eng zusammen leben müssen.
Was für einen Stellenwert hat die moderne Musik in Deutschland? Wie würden Sie das überhaupt einschätzen im Moment?
Sie hat noch einen – knapp. Sie hat nicht mehr den, den sie mal hatte, aber eben mehr als in anderen Ländern. Das merke ich an so vielen ausländischen Kollegen, die hierherkommen, weil sie nur in Deutschland Operninszenierungen bekommen. Ich wünschte mir manchmal, moderne Musik hätte hier den Stellenwert wie in England. Die Engländer haben einen viel freieren Zugang zu neuer Musik, weil sie vermutlich viel weniger Traditionen haben. Auf der anderen Seite sieht man dann Länder wie Frankreich und Italien, wo die Kollegen fast alle längst längst aufgegeben haben. In Frankreich vielleicht gibt es noch hie und da etwas, aber die italienischen Kollegen sind fast alle hier. Jemand wie Battistelli hat viele seiner Uraufführungen in Deutschland. Bei dem von mir geleiteten Festival “Cantiere Internazionale” in Montepulciano haben wir 2010 die italienische Erstaufführung von Sciarrinos Luci Mie Traditrici gemacht, was fast ein Skandal war, weil das Stück nämlich schon elf Inszenierungen gehabt hat, aber alle in Deutschland. In Italien lief es nie. Das sind so Zeichen…
In Deutschland ist noch Interesse da, aber das Überleben moderner Musik ist auch verknüpft mit den Apparaten. Und Deutschland ist dabei, auf vielfältige Weise seine Orchester und seine Theater abzuschaffen. Mit kleinen Sticheleien: da ist diese traditionelle Anbindung an die Kommunen, die alle schlecht dastehen durch die mangelnden Gewerbesteuereinnahmen. Es ist die sehr komplexe Anbindung des Theaterpersonals an den öffentlichen Dienst. Jetzt sind ja gerade wieder Verhandlungen. Wir hatten gestern ein großes Streitgespräch gehabt über die Frage, bei welchem Prozentsatz Steigerung wieder zehn Theater zumachen müssen. Es haben gestern auch zu meiner Überraschung, auch zu meiner Freude, viele auch für die Anbindung an den öffentlichen Dienst plädiert, weil sie sagen, das würde überhaupt dieses Theatersystem noch schützen. Aber Sie wissen genau, dass innerhalb der deutschen Theater eine riesige Schere geöffnet ist: von geschützten Bereichen wie Chor und Orchester zu völlig ungeschützten Bereich wie Solisten und Assistenten. Aber noch lebt es. Und ich glaube, das ist die Verpflichtung meiner Generation, und auch wahrscheinlich Ihrer Generation: das Musiktheater mit allem Feuer am Leben zu erhalten. Denn es ist eines der schönsten Dinge, die wir geschenkt bekommen und geerbt haben. Das haben uns 400 Jahre zugespielt. Ich finde ja, es ist bis heute eine der grandiosesten Erfindungen der Menschheit. Eine reine Utopie, denn die Oper ist ja erfunden worden, indem man Text, Bild, Gesang, Tanz zusammenbringt. Ich finde, es gibt nichts Heutigeres, weil es so unglaublich innovativ ist: Wir verhandeln uns auf der Bühne immer selbst, auf naiver, kindlicher und sehr hoher Intelligenzebene. Gleichzeitig. Das ist unübertrefflich.
Sie haben jetzt zehn Jahre den Status als Hauskomponist in Amsterdam bei Concertgebouw.
Ich kenne die Amsterdamer schon von früher, und da gab es eine Aufführung von meinem Orchesterstück Theatrum Bestiarum . Und es war Liebe auf den ersten Blick. Ich habe mich mit dem Orchester sofort verstanden. Dann kamen noch andere Aufführungen. Vor einem Jahr oder zwei hat mich die Intendanz gebeten, sehr feierlich, mal vorbeizukommen, als ich in Amsterdam war: sie haben mir eröffnet, dass sie gerne mit drei Komponisten eine längerfristige Zusammenarbeit wollen, die zehn Jahre dauern soll. Und das ist natürlich ungeheuerlich, so etwas habe ich noch nie gehört. Sie haben mir auch sehr klar erklärt, warum: Ein oder zwei Jahre sind zu wenig, um eine Entwicklung zusammen durchzumachen. Von den Dreien bin also einer ich, und das ist grandios. Sie haben mir fünf Aufträge gegeben, verteilt über die Jahre, und spielen auch noch meine alten Sachen.
Es geht um Orchesterwerke – ?
Orchesterwerke, auch Chorwerke, auch Konzertwerke, und es sind verschiedene Solokonzerte im Gespräch.
[singlepic id=1147 w=320 h=240 float=right]Da hat man ja viele Möglichkeiten. Kammermusik auch?
Kammermusik hat das Concertgebouw auf privater Ebene mit mir arrangiert; nach den Proben kamen einige Musiker zu mir und fragten: “Haben Sie nicht dies? Haben Sie nicht das?” – Ich schreibe jetzt etwas für die Blechbläser zu ihrem Jubiläum. Es gibt dort einen bezaubernden Posaunisten, Jörgen van Rijen, der leitet das und hat das eingefädelt.
Und sonst noch ein Ausblick auf die nächste Zukunft?
Die sieht bei mir glücklich aus, muss ich sagen. Also, sehr viel Oper, es wird fast alles nachgespielt. Es geht auch ins Internationale, das freut mich. Jetzt kommt Österreich mit Nijinskys Tagebuch in Linz, in Koproduktion mit Bregenz. London kommt im Mai mit Caligula. Danach gibt es in Bregenz die Uraufführung von Solaris, in Koproduktion mit der Komischen Oper Berlin. Das sind alles sehr, sehr erfreuliche Aussichten. Ich habe viele Anfragen – ich kann gar nicht so viel ablehnen. Also, man fühlt sich wohl, wenn man gefragt wird. Und ich kann Ihnen auch gleich sagen: Es war nicht immer so. Die ersten 10, 15 Jahre sind mager für jeden Komponisten heutzutage.
Ja. Vielen Dank für das Gespräch!
Ich danke Ihnen!
(Das Interview wurde geführt am 2. März 2012 in München.)
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