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Samowar und Seufzer – Onkel Wanja in den Münchner Kammerspielen

[singlepic id=1622 w=320 h=240 float=left]Die Russen sind en vogue. Egal, ob im Musik- oder Sprechtheater, München ist sein geraumer Zeit regelmäßiger Reflektor der kanonisierten Hochkultur aus dem Land, wo Kaviar und Wodka fließt. Egal ob Bieitos Kirschgarten oder Godunow, die Karenina am Volkstheater, dem missglückten Platonow in den Kammerspielen oder der noch missglückteren Möwe des kleinen Stacheder-Schauspielensembles.
Gerade Tschechow, der große Bühnenarbeiter mit den gewitzten, leichten Dialogen und der unendlichen, schnapsseligen Melancholie glimmt, nicht nur im Tourneetheater, als Everburner auf kleiner Flamme. Die Kammerspiele brachten nun im April seinen späten Onkel Wanja heraus. Das Theater des Jahres mit dem Schriftsteller des letzten Jahrhunderts sozusagen.
Wir sehen dabei wenig. Szenischer wie ausstattungstechnischer Nihilismus: Alles spielt sich auf einer erhöhten Rampe ab, einem kleinen, schwarzen Guckkasten (Muriel Gerstner) mit zwei Auftritten und einer schwarzen Wand. Mehr ist nicht, bis auf ein fragliches Digitaltextband, dass vollkommen willkürliche Fragen über der Szene laufen lässt. Mehr eine Familienaufstellung wird hier durch Rampentheater präsentiert, spätestens wenn Jelena die Figuren nebeneinander in seltsamem Tanz an die Wand bannt. Alle vier Teile ohne Unterbrechung der Therapiesitzung.
Gespielt wird dagegen naturalistisch, wenngleich oft genug mit gewollter Outrage.
[singlepic id=1623 w=240 h=320 float=right]Allen voran die preisgekrönte Sonja von Anna Drexler. Ein nahezu autistisches, verkapptes, spätes Mädchen, das mit ihrer Hilflosigkeit rührt. Sie kämpft mit ihren Worten, frisst in sich hinein, bricht eruptiv aus und geht mit ihrer Hässlichkeit herzzerreißend um. Immer schwankt dabei die Figur zur Karikatur. Ebenso verfährt der köstlich phlegmatische Benny Claessens, einem Wanja halb TV-Sheldon, halb Großkind. Sarkastisch, bissig, verletzend und traurig in seiner aggressiven Hilflosigkeit. Daneben wenig Spannendes. Der x-te Mann in Frauenkleidern (handwerklich top: Hans Kremer). Wann legen die Kammerspiele diese olle Kamelle endlich ab? Neuerdings allerdings kommt das serielle Hyperweib zum Kanon des Standardpersonals der Kammerspiele dazu. Neobergmanns, Neugarbos mit Betonföhnung und Statuenauftritten. Neben Hobmeiers Satansgrazie nun Wiebke Puls als ätherische Jelena mit bestaunenswerter Ehrlichkeit um am Meisten Leben dieser leeren Hülsen, die Tschechow wieder und wieder kombiniert und (neu) gegeneinander führt. Heißen sie Mascha, Nina oder Sonja. Daneben wenig Erwähenswertes. Hinter dem Haarschopf fällt der Ökodoc von Simonischek jun. ab, der etwas hilflos über die leere Bühne torkelt und mit dem Chargenkonzept am Wenigsten zurechtkommt, während es Puls schafft auch bei diesen Tschechowpappen Zwischentöne und Tiefe herauszuklappen.
Denn auch diese haben die immer wieder aufgetauten Figuren, man muss sie nur aus den Textplattitüden und dem Minimalkonzept herausschälen: Lebenseinsatz für nichts, die immer gescheiterte, im Keim erstickte Liebe, die Lust am Unglück, die große Melancholie ohne Entrinnen, der Fluch der Familie…
[singlepic id=1624 w=320 h=240 float=left]Einen Regiecoup aber hatte das Regieduo Henkel/Simons dann doch noch: Die Sängerin von Münchens neuer Theaterlieblingsband Pollyester gibt atmosphärisches Domkosakenchanson und macht die Russendisco. Genial und fatal zugleich. Denn nur durch die wunderschön melancholischen Seufzer fühlen wir uns in der Datscha angekommen. Die Inszenierung distanziert sich fast schon vom Russenklischee, das Bieitos Kirschgarten noch massiv abfeiert. Die wunderbaren Sätze des Bühnenarbeiters funktionieren natürlich auch in Shangai, doch das immanent russische, das pathetisch Schwere transportiert sich lediglich im Pollyestersound.
Nach ihrem grandiosen Lola-Montez-Sound hofft München übrigens baldigst auf eine komplette Pollyestershow! Mooshammer- die Operette unter der Regie von Köpplinger am Gärtner vielleicht (Aushilfsspieltort Oberpollinger?) Oder das dritte und letzte Ludwigsmusical im Rohbau Deutsches Theater? Diese Band rockt!
Die Inszenierung allein weniger. Es bleiben große Momente der Darstellung, die wunderschöne Sprache und die leisen Soprantöne. Weder Bieito noch Simons konnten Tschechow neu übersetzen, ohne in die Folkore- oder Nihilismusfalle zu stürzen.
Im Publikum der besprochenen Vorstellung saß der gerühmte Kriegenburg als Zuschauer. Vielleicht sollte er zeitnah vom Parkett ans Regiepult für den Russen wechseln.

Regie: Karin Henkel / Johan Simons, Bühne: Muriel Gerstner, Kostüme: Klaus Bruns, Musik: Pollyester, Licht: Stephan Mariani, Dramaturgie: Julia Lochte
Mit: Stephan Bissmeier, Benny Claessens, Anna Drexler, Hans Kremer, Polina Lapkovskaja, Stefan Merki, Wiebke Puls, Max Simonischek

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Ein einstürzender Altbau – Bieitos Kirschgarten im Residenztheater

[singlepic id=1459 w=320 h=240 float=left]Am Ende bleibt der Spucker. Mit diesem beginnt auch Tschechows Adelsabgesang, der sehr jetztzeitig im Resi stattfindet. Guntam Brattia als neureicher Kaufmann schmatzt inmitten des Parketts an einem Butterbrot und verteilt Brösel ausladend und sprühend spritzig über die umsitzenden Zuschauer. Er ist ein Emporkömmling, ein Rohling ohne Manieren und das wird scherenschnittig bereits im Prolog klar. Dass man den brösligen Überfall verzeiht, liegt an Brattias nichtsdestotrotz sympathischer Ausstrahlung hinter dem Derben, Dummen, Kahlen und Kalten des Neureichen, der den Kirschgarten und das Erbe der verarmten Bourgeosie übernehmen wird. Ganz im Gegenteil zu seinem kühlen Killermanager aus Die Götter weinen gibt er hier haptisch fühlbar und mit einer verstörenden Nähe den pragmatischen Verschlinger, den Modernisten und Verweser. Das Spucken entschädigt er am Ende mit Gratisbrut für die Abrissparty.

Überhaupt wird mit dem Betonhammer zerstört bei Bieito. Der kahle, auf Sand gebaute Rohbau (Bühne: Rebecca Ringst) bricht sukzessive und lautstark in sich zusammen, wie die Figuren. Diese degenerieren bereits in ihrer Einführung zu Pappkameraden und Funktionsmöbeln von Bieitos Leichenschau. Allein Sophie von Kessel als Andrejewna darf Zwischentöne produzieren, wenn sie von Tabletten vernebelt langsam ihr Schicksal dämmern sieht. Auch sie ist physisch fassbar, zerbrechlich, authentisch und traurig.

Daneben Varietéfiguren angeführt von dem sinnentleert, doch komisch locker aus der Hüfte spielenden Manfred Zapatka, ähnlich wie sein Firmenkönig in Die Götter weinen. Keiner hört ihm zu und er verkennt die Lage, doch ist sichtbar damit zufrieden. Alle verkennen sie die Notlage des Guts oder wollen sie schlichtweg nicht wahrhaben. Auch Bieito nimmt seine Charaktere nicht zu ernst. Was bei Tschechow noch ein Diener ist, wird bei ihm mit der Rolle Jascha zum notgeilen Hipster (etwas viel: Franz Pätzold). Sprichwörtlich zum Möbel deklamiert und deklassiert er als guten Einfall den alten, störrenden Firs – Jürgen Stössinger bietet eine gelungene Neuauflage seiner Kasimir und Karoline-Travestie. Auch Friederike Ott gibt eine überdeutliche Warja – irgendwann in verhärmter Krankenschwesterntracht. Diese wiederum wird vom Belorusspüppchen Marie Seiser (ätherisch spröde) gespiegelt (Kostüme: Ingo Krügler).

Ab der Hälfte spielen die Figuren dann Historientheater und kleiden sich in historischen Kostümen zur Live-Untermalung der Bühnenmusiker. Nötig wäre das nicht, denn den Text tastet Bieito nicht an, bleibt ganz nah an Tschechows lakonischer Komik zwischen Verzweiflung und geliebten Weltschmerz unter dem dicken Boden eines vollen Wodkaglases. Nur die Figuren entfremdet er zu Betonklötzen, die er zermalmt. Eine vielschichtige tragikomische Figur, wie sie Tschechow eigentlich immer anlegt, bleibt nicht. Dafür Baulärm, Dosenbier, Geschrei und kaputte Menschen.

Vielleicht spuckt Bieito selbst etwas lakonisch dem alten Russen hinterher und gönnt ihm keinen ruhigen Abgesang auf einen Kirschgarten, sondern reibt uns die Brösel des einfallenden Altbaus direkt und mit Gewalt sprichwörtlich unter die Nase.

Tschechow erlaubt das mit Abstrichen. Die Frage bleibt, ob dies sein Godunow am Nachbarhaus auch kann.

Regie Calixto Bieito; Bühne Rebecca Ringst;Licht Tobias Löffler; Kostüme Ingo Krügler; Dramaturgie Andreas Karlaganis; Sophie von Kessel Ljubow Andrejewna Ranjewskaja, Gutsbesitzerin; Marie Seiser Anja, ihre Tochter; Friederike Ott Warja, ihre Adoptivtochter; Manfred Zapatka Leonid Andrejewitsch Gajew, ihr Bruder; Guntram Brattia Jermolaj Alexejewitsch Lopachin, Kaufmann; Lukas Turtur Pjotr Sergejewitsch Trofimow, Student; Gerhard Peilstein Boris Borissowitsch Simeonow-Pischtschik, Gutsbesitzer; Ulrike Willenbacher Charlotta Iwanowna, Gouvernante; Thomas Gräßle Semjon Pantelejewitsch Jepichodow, Kontorist; Katrin Röver Dunjascha, Dienstmädchen; Jürgen Stössinger Firs, Diener; Franz Pätzold Jascha, ein junger Diener

Besucht wurde die Vorstellung am 29.01.2013

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