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Graeme Macrae Burnet Lesung und Gespräch, 11.08.2018, Edinburgh International Book Festival

© Europa Verlag

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Jane Fowler stellte Graeme Macrae Burnet kurz vor. Schon sein erster Roman Das Verschwinden der Adele Bedeau, ein Elsass-Krimi, wurde mit mehreren Preisen ausgezeichnet. Sein blutiges Projekt. Der Fall Roderick Macrae hingegen sei ein historischer Krimi, der zahlreiche Preise erhalten habe und ihn noch berühmter gemacht habe.

Graeme Macrae Burnet merkte an, dass viele Leser und sein Verlag nach dem Erfolg von Sein blutiges Projekt ein ähnliches Buch erwartet hätten, was unmöglich sei. Zum Glück sei zu diesem Zeitpunkt der zweite Elsass-Krimi bereits so gut wie fertig gewesen, Der Unfall auf der A35 .

Das Buch beginne mit dem Unfall selbst, wie Kommissar Georges Gorski und der 17-jährige Sohn des gerade verstorbenen Anwalts aufeinandertreffen. Sein Ziel sei gewesen, die Gedanken dieser beiden Figuren zu zeigen, die Auflösung sei im Vergleich fast Nebensache. Für ihn liege die Spannung in der Erforschung der Figuren, dort befinde sich das wahre Drama.

Im ersten gelesenen Abschnitt stellte er den 17-jährigen Raymond Barthelme vor, der ins einem Zimmer Sartre liest, im zweiten dann Kommissar Gorski, der gerade von seiner Frau verlassen wurde.

Nach dem Schreiben von Sein blutiges Projekt wollte er zurück nach Saint Louis, in diese Stadt, in der sich nichts zu verändern scheine. Das Lebensgefühl dort, die eingespielte Routine gefalle ihm. Durchreisende würden in der Regel nicht anhalten in dem Ort, in dem andere Menschen ihr ganzes Leben verbrächten. Auch nach 20 Jahren würden scheinbar noch die gleichen Menschen im gleichen Restaurant zum Mittagstisch von einer unveränderten Speisekarte bestellen. Der junge Raymond überlege fortzugehen, lese aber noch Sartre in seinem Zimmer. Graeme Macrae Burnet sei es in seiner Jugend ähnlich ergangen. Aufgewachsen in Kilmarnock habe er immer das Gefühl gehabt, eines Tages von dort wegzugehen.

Sowohl Raymond als auch Kommissar Gorski befänden sich an einem Punkt der Freiheit. Raymond fühlte sich von seinem Vater unterdrückt, jetzt könnte er die Welt entdecken. In seinem Alter sei es normal, verschiedene Gesichter gegenüber den Mitmenschen auszuprobieren. Gorski wurde zwar von seiner Frau verlassen, ist seinem neuen Leben jedoch zufrieden. Auch wenn er Saint Louis jetzt verlassen könne, bleibe er dort, vielleicht weil er lieber ein ruhiges Leben wolle.

Graeme Macrae Burnet erzählt von den Auswüchsen seiner blühenden Fantasie. So fahre er oft mit dem Fahrrad durch Glasgow und stelle sich vor, dass einer der Menschen um ihn ermordet werden könnte, er selbst dann als Zeuge befragt würde oder gar als Verdächtiger. Lange habe er geglaubt, dass alle Menschen solche Gedanken hätten, aber dem Gelächter des Publikums entnehme er, dass dies nicht so sei.

Auch die kleinsten Details versuche er genau und korrekt auszuarbeiten. Es sei wichtig, dass kleine echte Begebenheiten vorkämen, diese würden die Geschichten authentisch machen und zum Leben erwecken. Dann hätte er ein Bild vom Schauplatz und dem glaubwürdigen Verhalten der Figuren in seinem Kopf. Während in seinem neusten Buch die Perspektive zwischen zwei Figuren wechselt, wird „Sein blutiges Projekt“ aus der klaustrophobischen Sicht von Roddy erzählt.

Es sei ihm nicht wichtig, ob Leser Sein blutiges Projekt für einen echten Fall hielten. Man wolle oft beim Lesen das Gefühl haben, eine echte Geschichte zu lesen und nicht einen erfundenen Roman.

Dann las er seinen Beitrag zu den Freedom Papers, eine kurze Geschichte über Schein und Sein, in der er seine blühende Fantasie erneut unter Beweis stellte. Danach erzählte er, dass er sich auch selbst völlig irrige Regeln auferlege, wie zum Beispiel jeden Morgen im gleichen Supermarkt beim gleichen Angestellten die gleiche Sorte Sandwich zu kaufen. Natürlich sei ihm irgendwann klar, dass es für diesen Angestellten kein revolutionärer Akt sei, wenn dieser unbekannte Kunde plötzlich eine andere Sorte Sandwich kaufen würde. Aber seine Fantasie treibe nun mal solche Blüten.

Bei den Fragen aus dem Publikum ging eine Frau darauf ein und erklärte ihm genau, mit welchen Zutaten er selbst viel besseres Brot backen könne und wie er diese belegen könne. Das sei viel gesünder. Graeme Macrae Burnet bedankte sich, erwiderte jedoch, dass das für ihn aktuell nicht in Frage komme.

Viel zu schnell war eine interessante und humorvolle Stunde vorbei. Im Anschluss signierte Graeme Macrae Burnet noch und beantwortete geduldig weitere Fragen

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Lesung und Gespräch Jasper Fforde, 11.08.2018, Edinburgh International Book Festival

Eiswelt von Jasper Fforde © Heyne Verlag

Eiswelt von Jasper Fforde © Heyne Verlag

Zu Beginn stellte die Moderatorin Kirsty Logan Jasper Fforde kurz vor und sein neustes Buch Early Riser, aus dem er die ersten Seiten vorlas. (Die deutsche Fassung heißt Eiswelt und ist für den 12.11.2018 angekündigt.)
Er stelle sich gerne literarischen Herausforderungen und wollte dieses Mal eine Welt erschaffen, in der die Menschen schon immer für einen festgelegten Zeitraum Winterschlaf hielten. Absurde, spekulative Geschichten, deren Hintergrund langsam enthüllt wird, lägen ihm. Dies sei das dritte Buch, das er auf einer Zugfahrt angefangen habe, nach Wo ist Thursday Next  und Grau. Das sei perfekt, denn man befinde sich zwischen zwei festen Punkten, könne zufällige Gespräche mit anderen Menschen führen und finde viel Inspiration während der Reise.

Der Anfang des Buchs gefalle ihm, denn die Leser werden direkt in diese ungewöhnliche Welt hineingeworfen, in der es eine besondere Art von Untoten gibt. Menschen, die während des Winterschlafs den Großteil ihres Gedächnisses verloren haben und dann für niedere Arbeiten oder als Organspender eingesetzt werden. Mrs. Tiffen spielt zum Beispiel ohne Unterlass ein einziges Lied auf ihrer Bouzouki, Help Yourself von Tom Jones. In diese Welt träumen die Menschen nicht mehr, um Energie zu sparen. Was würde passieren, wenn Menschen plötzlich wieder träumen, gar den gleichen Traum teilen. Das Titelbild von Eiswelt zeigt einen Traum und wurde von einem Werbeplakat der Bahn inspiriert. Durch ein Fenster (Loch im Einband) sieht man das gleiche Paar, außen im Winter, innen im Sommer.

In dem Buch gebe es auch eine Anspielung auf die Ursache seiner langen literarischen Schaffenspause: “slow to pen a player’s handbook”. Früher habe er nicht an Schreibblockaden geglaubt und sich sogar lustig darüber gemacht, selbst jedes Jahr ein Buch veröffentlicht. Ein sichtlich erschütterter Jasper Fforde erzählte, dass er immer noch nach der Ursache suche und vielleicht der verhemente Versuch ernsthafte Literatur zu schreiben, damit zu tun haben könne. “Grau” sei eher “absurd schwer” im Vergleich zu den “absurd leichten” Büchern um Thursday Next.

Ihm liege der spielerische Umgang mit Worten und Ideen, den er scheinbar beim Versuch etwas dunkleres, ernsthafteres zu schreiben, fast komplett verlor. Auch das Erschaffen seiner fiktiven Welt begeistert ihn immer noch spürbar, wie genau man darauf achten müsssen, keinen Marty McFly zu haben, der plötzlich alles verändern könne. Für die Thursday Next Bücher habe er zahlreiche Regeln aufgeschrieben, um Logikfehler zu vermeiden.

In Eiswelt hatte er Spaß dabei, Konventionen aus unserer Welt auf den Kopf zu stellen. So müssen die Menschen dort zum Beispiel vor dem Überwintern immens viel an Gewicht zunehmen, um keine Gesundheitsschäden davonzutragen. Das Medikament Morphinox sorgt für einen energiesparenden, traumlosen Schlaf.

Er arbeite seit 1995 mit einem Psion 5 MX und empfahl den Zuhörern für gebrauchte Geräte maximal 90 britische Pfund dafür zu bezahlen. Auf dem Gerät könne er schnell tippen und es reiche für seine Zwecke völlig aus.

Ganz gezielt habe er viele Anspielungen auf die 80er Jahre eingearbeitet, wie zum Beispiel die (Faulty) Dormitoria. In dieser Welt hätten Monty Python kein Hotel sondern Wohnheime zum Überwintern als Schauplatz gewählt.

Auch Shakespeare und seine Figuren würden überwintern, was nicht nur die Handlung von “Romeo und Julia” beeinflusse. Nach Ansicht von Jasper Fforde würde “Macbeth” durch das Überwintern ein deutlich besseres Stück und “Romeo und Julia” könne ganz anders enden.

Sein Wahlheimat Wales sei immer öfter Schauplatz seiner Bücher, eine Region, die für ihre Sagen und Mythen bekannt sei. In einer Welt wie “Eiszeit” gäbe es natürlich zahlreiche Geschichten, in denen das Überwintern eine Rolle spiele. Solche Mythen zu erfinden mache ihm viel Spaß, auch wenn es nicht einfach sei, denn man könne absurde Regeln erfinden, wie zum Beispiel ein Monster, dass gerne Wäsche faltet und viele Bewohner um ihre Häuser zu sichern einen Korb ungefalteter Wäsche draußen lassen.

Auch die Idee, mit einer Dampflok durch das bergige Wales zu reisen gefiel ihm und für das Buch verschob er den “Fat Thursday” (Donnerstag vor Aschermittwoch) auf den Donnerstag vor dem Überwintern. Eigentlich wollte er auch Rick Astleys Musik und Tänze integrieren, habe ihn jedoch nicht wegen einer Genehmigung erreichen können.

Dann ging Jasper Fforde nochmal auf seine Schreibblockade ein. Er habe versucht, etwas zu schreiben, dass ihm nicht liege. Seine Erwartung an die Fortschritte seines schriftstellerischen Könnens habe nicht der Realität entsprochen und man müsse sich auch den Fakten stellen, dass man nicht für jedes Genres schreiben könne. Als Autor müsse man sehr kritisch mit den eigenen Texten umgehen, “passt schon” (“this will do”) solle nicht der Maßstab sein.

Seiner Ansicht nach ist Grau sein bisher bestes Werk, leider nicht nach den Verkaufszahlen, gefolgt von The Fourth Bear (bisher nicht übersetzt). Täglich bekomme er Emails, die nach der Fortsetzung zu Grau fragen. Als nächstes erscheine ein Roman mit abgeschlossener Handlung, dann der vierte Band der “Drachentöter”-Reihe, weil der amerikanische Verlag scheinbar viel Druck wegen des längst überfälligen Buchs ausübt. In ungefähr drei Jahren dann die Fortsetzung zu Grau und 2022 möglicherweise einen neuen Band der Thursday Next Reihe.

Eigentlich wollte Jasper Fforde wohl nichts über das nächste Buch verraten, wurde jedoch aus dem Publikum gefragt, ob Kaninchen eine Rolle in seinem nächsten Buch spielen. Was würde passieren, wenn eine Familie außergewöhnlich großer Kaninchen nebenan einziehen würde, Kleidung trüge und… sich vermehre wie Kaninchen. All dies ausgerechnet im als äußerst konservativ bekannten Hertfordshire. Es gebe plötzlich die UKARP (UK Anti Rabbit Party), eines der Mitglieder hieße Nigel, eines ähnele dem Cadbury Caramel Bunny, ein Dachs und ein Dalmatiner bilden ein Comedy Duo mit dem Namen “Spots and Stripes”.

Man müsse die Magie und Möglichkeiten in unserer Welt sehen, die dann zu etwas Bizarrem verschmelzen können. Gleichzeitig sei ihm bewusst, dass in seinen Büchern auch viel infantiler Humor vorkomme, aber er möge auch die Sketche von Monty Python. Schon als Kind schaute er gerne die “Muppet Show”, sein Vater habe über die meisten Scherze die Nase gerümpft, wollte jedoch immer rechtzeitig für “Schweine im Weltall” gerufen werden.

Er könne sich nicht vorstellen, einen Schauplatz außerhalb Großbritanniens zu wählen, weil er sich hier viel besser auskenne.

Lesegruppen würden ihn häufig einladen, um seine Bücher mit ihm zu diskutieren, insbesondere die Reihe um Thursday Next, und ihm zu raten, mehr Mainstream zu schreiben. Mit einem Augenzwinkern erzählte Jasper Fforde, eine Gruppe habe sowohl Shades of Grey als auch ein Buch mit einem sehr ähnlichen Titel gelesen, aber leider habe er später nichts mehr davon gehört.

Für ihn sei es ein Unterschied, ob man etwas freiwillig lese oder es lesen müsse. “Der Fall Jane Eyresei wie Kichern aus der letzten Reihe im Englischunterricht.

Auf die ausgefallenen Namen seiner Figuren angesprochen, erzählte Jasper Fforde, dass er damit einer langen Tradition in der englischsprachigen Literatur folge und sogar ein besonderes Notizbuch dafür habe. Im einem Band der Thursday Next Reihe gibt es eine Figur namens Paige Turner, deren vollständiger Name jedoch erst auf der drittletzten Seite genannt werde. Zuvor sei immer nur die Rede von Page oder Frau Turner. Mit Begeisterung erzählte er von verschiedenen Wortspielen, die in seinen Büchern zu finden sind.

Jasper Fforde bedankte sich bei seinen Lesern für ihre Kreativität beim Lesen seiner Bücher und entschwand zum Signieren.

Nach einem eher enttäuschenden Hörerlebnis von Eiswelt freue ich mich auf das Buch um die Kaninchenfamilie, das eher nach der alten Form von Jasper Fforde klang. 🙂

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Philipp Pullman Lesung und Gespräch, 11.08.2018, Edinburgh International Book Festival

© Knopf

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“Nursery rhymes are so important in giving children a basic feel for language, which is one of fun and enjoyment and delight and playfulness.” (Kinderreime sind so wichtig, um Kindern ein Grundgefühl für Sprache zu vermitteln, das aus Vergnügen, Genuss, Entzücken und Verspieltheit besteht.)

Val McDermid stellte Philipp Pullman zu Beginn kurz vor und bedankte sich beim Woodland Trust für die Unterstützung der Veranstaltung. In den letzten Jahre habe er gemeinsam mit dem Woodland Trust viele Bäume gepflanzt – was Val McDermid sehr passend fand, als Ausgleich für die vielen verkauften Exemplare seiner Bücher.

Das Titelbild seines neusten Buches Daemon Voices. Essays on Storytelling ist seiner Meinung nach das gelungenste all seiner Bücher. Ein Rabe nimmt fast die gesamte Vorder- und Rückseite ein. Wenn er einen Dämon hätte, wäre es ein Rabe oder eine Krähe, weil er die Ansicht von T. S. Eliot teile, dass Geschichtenerzähler Ideen ausleihen oder stehlen würden. (“good writers borrow, great writer steal”, T.S. Eliot)

Als Kind sei er viel gereist, habe in Australien, Südafrika und Wales gelebt. Seine Familie reiste damals mit dem Schiff und so sei ihm die Atmosphäre zum Ende des britischen Empires vertraut. Er habe die Sprache in den Geschichten für den allerliebsten Liebling von Rudyard Kipling geliebt und auch Noddy Goes To Toytown von Enid Blyton zählte zu seinen Lieblingsbüchern. Es sei so wichtig, Kindern von Anfang an ein Gefühl für Sprache zu vermitteln, spielerisch mit Kinderreimen und so ihre Begeisterung zu wecken.

Nachdem seine Eltern früh starben, wuchs er bei Verwandten in Wales auf. In der Schule dort habe er zum ersten Mal Paradise Lost gelesen und zitierte eine längere Passage für die Zuhörer. Auch heute reagiere er noch genau wie damals auf die Sprache von John Milton, mehr noch als Geschichten liebe er den Klang von Poesie. In Oxford studierte er Englische Literatur am Exeter College, an dem es damals wie in einem Rugby Club aus dem 18. Jahrhundert zugegangen sei. (Frauen sind dort erst seit 1978 zugelassen.) Zum Glück habe er vor Einführung der heute üblichen zentralen Prüfungen die Schule und Uni besucht, denn die vorgeschriebenen Grammatikregeln würden jegliche sprachliche Kreativität unterbinden. So werde z.B. durch die Vorgabe von Subjekt-Verb-Objekt im Lehrplan ein Satz wie “Breit lächelnd betrat er den Raum.” (“Smiling broadly he entered the room”) als Fehler markiert.

Als Lehrer wollte er seinen Schülern die griechischen Mythen näherzubringen und erzählte ihnen frei das am Vorabend Gelesene. So sammelte er wertvolle Erfahrungen über das Erzählen von Geschichten und den Aufbau eines Spannungsbogens.

Val McDermid merkte an, dass seine Geschichten von den Figuren und der Geographie getrieben würden und er schon bei Sally Lockhart eine ihm eigene Mischung aus Realität und Fantasie geschaffen habe.

Sally Lockhart wurde ursprünglich als Theaterstück für die Schule geschrieben und fiel dann einem seiner Freunde in die Hände, der für die Oxford University Press tätig ist. Noch heute bestehe ein enger Kontakt und sie würden so gut wie jede Woche gemeinsam ins Kino gehen.

In seinen Büchern gebe es zahlreiche Momente des “Oh nein” oder “Warum, tu das nicht”, aber gerade diese würden die Geschichte auf eine andere Ebene befördern. Chandler habe gesagt, dass wenn ein Autor nicht weiterwisse, solle man einen Mann mit einem Gewehr durch die Tür kommen lassen. Das würde immer funktionieren und er verlasse sich inzwischen oft darauf.

Sally Lockhart sei fest im viktorianischen London verwurzelt und als Geschichte ganz und gar glaubwürdig, trotz fantastischer Elemente. Wir können dank der Fotografie sehen, wie es in den Anfangszeiten der modernen Welt aussah, nicht nur auf den gemalten Porträts des Adels, sondern auch Bilder der normalen Bevölkerung und deren Umgebung, sogar von Bettlern.

Philip Pullman gab zu, sehr abergläubisch zu sein und ganz feste Rituale für das Schreiben zu haben. Immer den gleichen Stift und das gleiche Papier, umgeben von ganz bestimmten Gegenständen. Es sei ihm ein wenig peinlich, aber für ihn funktioniere das.

Val McDermin sieht in Daemon Voices faszinierende Einblicke in das Geschichtenerzählen. Wann beginne das Schreiben eines Buchs für ihn. Das könne jederzeit geschehen, denn Schriftstellern würden ständig und überall Geschichten in etwas sehen, in den kleinsten Dingen. Er mache sich viele Notizen, schreibe in Cafés und dann gehe es darum, das erste Kapitel zu schreiben. Ein Buch zu beenden sei eine andere Form der Freude als eines zu beginnen und rund um Seite 70 werde es seinen Erfahrungen nach schwieriger. Es gebe keine “easy inspiration”, der Schreibprozess setze auch tägliches Üben voraus.

Er sei nicht in Lyras Welt zurückgekehrt, sondern habe sie eigentlich nie verlassen. Eigentlich sei die Geschichte erzählt gewesen und mit dem Bernstein Teleskop abgeschlossen. Das Schreiben von Lyras Oxford und Once Upon a Time in the North habe ihm viel Freude bereitet. Sein Freund aus dem Verlagswesen habe immer wieder nachgehakt und er selbst habe mehr über Staub wissen wollen.

Die Startauflage von Über den wilden Fluss seien in den USA 500.000 Exemplare gewesen. Als Autor könne man selbst nie genau beurteilen, ob man ein gutes oder humorvolles Buch geschrieben habe.

Val McDermid fragte, ob er ein bestimmtes Ziel beim Schreiben der Trilogie gehabt habe, etwas, das die Leser mitnehmen sollten. Sie habe viele feministische Ideen in den Büchern entdeckt.

Philip Pullman antwortete, dass jeder vernünftige Mensch Feminist sein sollte, aber das sei nicht sein Ziel beim Schreiben gewesen. Nur weil er eine starke junge Frau zur Hauptfigur mache, müsse die männliche Hauptfigur nicht schwach sein. Auch der Junge könne eine starke Figur sein.

Derzeit sei die Forsetzung von Über den wilden Fluss im Lektorat. Er möge den Prozess des Lektorierens. Die erste Fassung seiner Bücher schreibe er immer noch von Hand.

Dann kamen die Fragen aus dem Publikum und Philip Pullman erzählte, dass er zu alt sei, um die Nursery Rhyme Party wieder auferstehen zu lassen.

Er könne nicht sagen, welchen Zeitrahmen die erste Trilogie genau umfasse. Lyra und Will seien gerade im Begriff ihre Kindheit hinter sich zu lassen und in dieser Lebensphase könnten Veränderungen sehr schnell geschehen. Auch wenn ihm vorgeworfen wurde, er würde sexuelle Beziehungen zwischen Kindern verharmlosen, sei das nicht der Fall. Es komme ein erster Kuss vor, der seiner Ansicht nach nichts mit Sex zwischen Kindern zu tun habe. Lyra und Will hätten viel durchgemacht und das würde sie verändern, reifer werden lassen.

Genau wegen dieses Punktes hasse/verachte er die Narnia-Bücher, denn die Kinder in diesen Büchern dürften nicht erwachsen werden. Man hätte davon ausgehen können, dass sie aus ihren Erfahrungen gelernt hätten und zurück in ihrer Welt Gutes daraus entstehen lassen würden – aber nein, eine Entwicklung sei nicht gewünscht gewesen.

Der Dämon bestimme nicht die Position in der Gesellschaft. So würde ein Hund als Dämon nur bedeuten, dass jemand ein guter Bediensteter sein könne – aber nicht, dass er es sein müsse oder eine bestimmte festgeschriebene Stellung in der Gesellschaft habe.

Die Bank im botanischen Garten von Oxford kenne er genau und leider würden inzwischen Menschen glauben, etwas darauf schreiben zu müssen. Es sei geplant, eine Statue mit einem Motiv aus Lyras Welt in der Nähe der Bank aufzustellen und er hoffe sehr, dass die Menschen nicht weiterhin auf die Bank oder auf die Statue schreiben würden.

Philip Pullman vertrat vehement die Ansicht, dass Kinder- und Jugendbücher keine sichtbare Altersempfehlung tragen sollen. Die Verlage würden Bücher gerne in feste Kategorien einordnen, wogegen er und andere Autoren sich wehren würden. Das verschließe oft Türen zu Geschichten für potentielle Leser. Jede Schule solle eine gut ausgestattete Bibliothek haben mit einem engagierten Bibliothekar bzw. Bibliothekarin. Diese Person würde Lesealter und die Interessen der Schüler kennen und könnte geeignete Bücher empfehlen.

Wenn man Schriftsteller werden wolle, solle man nicht dem Wunsch der Verlage folgen “schreiben Sie ein Buch wie dieses hier”, sondern das Buch, das man selbst schreiben wolle. J.K. Rowling habe Harry Potter nicht geschrieben, weil es ihr empfohlen wurde, sondern obwohl die Idee damals völlig absurd gewesen sei. Man sollte zielstrebig, hartnäckig und mit Leidenschaft schreiben, das sei viel wichtiger als die Vorstellung, gezielt einen Bestseller zu schreiben.

Philip Pullman wirkte zum Ende der Veranstaltung erledigt und Val McDermid wünschte ihm alles Gute und dass er die Trilogie vollenden könne. Signiert wurde nicht mehr, er hatte nachmittags in Ruhe zahlreiche Bücher signiert, die in den Buchläden des Bookfests gekauft werden konnten.

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Nachlese Edinburgh International Book Festival 2016

Auch dieses Jahr war ich im August wieder auf dem Edinburgh International Book Festival oder kurz EdBookFest. Wie auch in den Jahren zuvor wurden einige Events in voller Länge aufgezeichnet und Interviews im YouTube Channel des Festivals veröffentlicht. Es lohnt sich immer wieder, einen Blick hineinzuwerfen, da immer mal wieder neue Videos dazu kommen.

Viele Bilder findet man auch bei Flickr:

2016 Edinburgh International Book Festival

Für mich war es erneut ein Wahnsinns-Erlebnis. Entgegen meinem ursrünglichen Plan, nächstes Jahr mal was anderes zu machen, habe ich jetzt doch schon wieder gebucht 🙂

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Lesung Ma Jian, 12.08.2013, Edinburgh International Book Festival

Mein persönlicher Höhepunkt bei den Lesungen war jene von Ma Jian, den ich bei der Frankfurter Buchmesse nicht gesehen hatte, als China Gastland war und er vom offiziellen Teil ausgeschlossen war. Seine Werke sind in China seit 1987 verboten, seit 2011 besteht auch ein Einreiseverbot für ihn.

Die 180 Plätze im Lesezelt waren alle besetzt als Ma Jian, seine Ehefrau Flora Drew und die Moderatorin Rosemary Burnett auf die Bühne kamen. Ma Jian selbst sprach durchgängig Chinesisch, seine Frau dolmetschte die gesamte Veranstaltung.

Sein neustes Werk The Dark Road beschäftigt sich mit den Folgen der staatlichen Familienplanung in China, der Titel umschreibt auf Chinesisch auch den Geburtskanal der Frau,
für Ma Jian ein ganz besonderer Ort. Meili, die weibliche Hauptfigur steht für die Frauen im sich wandelnden China, die vom Land nach Guangzhou und Shenzhen ziehen, um dort in riesigen Fabriken zu arbeiten, die nach Selbstbestimmung und Freiheit suchen. Sie soll eine äußerst entschlossene Frau sein, die sich mit jeder Faser ihres Körpers gegen die Vorgaben der Regierung wehrt. Ihr Ehemann Kongzi ist ein direkter Nachfahre von Konfuzius (Chinesisch: Kongzi), dessen Charakter komplementär zu dem von Meili angelegt ist. Er repräsentiert die dunklen, konservativen Stimmen, die Druck auf Meili ausüben, einen Stammhalter zu gebären, der den Familiennamen fortführt.

In den letzten Jahre hat der lange verschmähte Konfuzianismus durch die chinesische Regierung eine Wiederbelebung erfahren, allerdings nach Ma Jians Erfahrungen auf der Grundlage eines nur vagen Verständnisses. Er hat nichts dagegen, dass traditionelles Gedankengut an modernes Denken angepasst wird, wie z.B. in Hinsicht auf die Rechte der Frauen. Traditionen sind wichtig für eine Gesellschaft und können Selbstsicherheit geben, so wie er es am Wochenende selbst bei den Highland Games erlebt habe. Es sei jedoch wichtig, diese Traditionen zu verstehen und vernünftig in unsere heutige Zeit zu übernehmen bzw. eben anzupassen.
In jedem alten Volk sei der Glaube an Geister verbreitet gewesen, egal wo auf der Erde und besonders ausgeprägt im alten China. In „The Dark Road“ spricht der Geist des ungeborenen Kindes von Meili. Diese Idee ist tief im chinesischen Glauben verwurzelt, nach dem der Geist eines ungeborenen Kindes bei der Frau bleibt, bis es geboren wird. D.h. bei einer Fehlgeburt oder Abtreibung würde der Geist des Kindes weiterhin bei der Frau verweilen.

Meili flieht immer wieder vor den Behören, drei Schwangerschaften in neun Jahren…. begleitet von der Stimme des ungeborenen Kindes. Auch dies passt zur traditionellen chinesischen Gedankenwelt, in der die Zeit als zyklisch empfunden wird und das Auge des all-sehenden Geistes uns stets beobachtet.

Ma Jian las einen kurzen Abschnitt auf chinesisch aus der in Taiwan erschienen Originalausgabe, dann las Flora Drew eine längere Passage aus der englischen Ausgabe seines neusten Werkes.

Nachdem Ma Jian den Rohentwurf zu „The Dark Road“ geschrieben hatte, reiste er zur Recherche nach China, dies war noch bevor ein Einreiseverbot für ihn verhängt wurde. Zuerst war es schwierig, Menschen zu finden, die ihm fundierte Auskunft über die negativen Auswirkungen der erzwungenen Ein-Kind-Politik geben konnten bzw. wollten. Seit dem Olympischen Spielen war von der Regierung ein dicker Mantel des Schweigens über dieses Thema gelegt worden. Schließlich wurde er in seiner alten Heimatstadt Shandong fündig und hörte grauenvollen Geschichten über Spätabtreibungen, bei denen der Arzt völlig abgestumpft nur kurz gesagt habe „Schade, war ein Junge“ oder Kinder trotzdem noch stundenlang weiterlebten. Ma Jian hörte nicht „nur“ über solche Ereignisse, sondern sah auch die enorme Umweltverschmutzung, die Lebensbedingungen der Menschen z.B. in Guangxi und in Sichuan, erlebte gewaltsame Demonstrationen gegen die Ein-Kind-Politik bei denen Beamte in Brand gesteckt wurden. Er reiste nach Guiyu, wo er sich als Arbeitssuchender ausgab und Furchtbares sah und hörte.

Nirgendwo sonst in China gäbe es so viele fehlgebildete Kinder, Fehlgeburten und sei es so schwierig, überhaupt schwanger zu werden. Gleichzeitig würden Frauen im gebärfähigen Alter wie Verbrecherinnen behandelt, sie würden alle drei Monate kontrolliert, ob sie schwanger seien. Nur Reiche könnten sich davon freikaufen und zur Geburt weiterer Kinder ins Ausland reisen. Ma Jian hörte von einem Professor, der durchsetzte, dass seine Frau in China ein zweites Kind zur Welt bringen durfte und daraufhin seinen Arbeitsplatz verlor und eine Strafe in Höhe von 20 Jahresgehältern bezahlen musste.

Eigentlich hatte Ma Jian nach der Geburt seiner ersten beiden Kinder über das Leben an sich schreiben wollen, nachdem es in Beijing Coma um den Tod ging. Gleichzeitig konnte er nicht schweigen, angesichts dessen was er in China sah und hörte. Er sieht seine Aufgabe als Schriftsteller darin, Probleme in der Gesellschaft aufzuzeigen. Er freut sich, wenn er hört, dass das Leben seiner noch in China lebenden Geschwister mit der Zeit besser wird und fragt sich, warum sie nicht so zornig über die Ungerechtigkeiten dort sind. Die Ereignisse auf dem Platz des Himmlischen Friedens hätten ihn zornig gemacht, diesmal sei er jedoch niedergeschlagen gewesen. 60 Millionen Kinder würden in China bei den Großeltern aufwachsen, weil die Eltern sich nicht selbst um sie kümmern könnten, ständig würden Kinder entführt, Kinderhandel sei überall präsent.

Die Gebärmutter sollte der sicherste Platz überhaupt für ein ungeborenes Kind sein, nicht ein Ort der Gefahr vor Menschen, die der Ansicht wären, dass Säuglinge, egal wie alt, vor der Geburt keine Gefühle hätten. Ihm sei bewusst, dass er mit einem Buch nicht die Gesellschaft verändern könne, hoffe jedoch, diese Dinge ins Bewusstsein zu rufen. Auch wenn Ma Jian immer wieder betonte, er sei nicht mehr zornig, waren seine Emotionen deutlich zu spüren und seine Frau musste ihn immer wieder an die eigentlichen Fragen erinnern und ein wenig ausbremsen.

Das Publikum war gefesselt und als Fragen gestellt werden durften, berichtete ein Frau, dass sie zwei Mädchen aus chinesischen Waisenhäusern adoptiert habe. Ma Jian bedankte sich bei ihr, dass sie den Kindern die Chance auf ein besseres Leben gebe.

Eine sehr bewegende Veranstaltung mit einem interessanten Autor, dessen neustes Werk hoffentlich bald auch auf deutsch erscheint.

Weiterführenden Links:
http://en.wikipedia.org/wiki/Electronic_waste_in_Guiyu
http://www.flickr.com/photos/52289342@N0…157620894755924
http://www.greenpeace.org/international/…llution-230707/

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