Überhaupt wird mit dem Betonhammer zerstört bei Bieito. Der kahle, auf Sand gebaute Rohbau (Bühne: Rebecca Ringst) bricht sukzessive und lautstark in sich zusammen, wie die Figuren. Diese degenerieren bereits in ihrer Einführung zu Pappkameraden und Funktionsmöbeln von Bieitos Leichenschau. Allein Sophie von Kessel als Andrejewna darf Zwischentöne produzieren, wenn sie von Tabletten vernebelt langsam ihr Schicksal dämmern sieht. Auch sie ist physisch fassbar, zerbrechlich, authentisch und traurig.
Daneben Varietéfiguren angeführt von dem sinnentleert, doch komisch locker aus der Hüfte spielenden Manfred Zapatka, ähnlich wie sein Firmenkönig in Die Götter weinen. Keiner hört ihm zu und er verkennt die Lage, doch ist sichtbar damit zufrieden. Alle verkennen sie die Notlage des Guts oder wollen sie schlichtweg nicht wahrhaben. Auch Bieito nimmt seine Charaktere nicht zu ernst. Was bei Tschechow noch ein Diener ist, wird bei ihm mit der Rolle Jascha zum notgeilen Hipster (etwas viel: Franz Pätzold). Sprichwörtlich zum Möbel deklamiert und deklassiert er als guten Einfall den alten, störrenden Firs – Jürgen Stössinger bietet eine gelungene Neuauflage seiner Kasimir und Karoline-Travestie. Auch Friederike Ott gibt eine überdeutliche Warja – irgendwann in verhärmter Krankenschwesterntracht. Diese wiederum wird vom Belorusspüppchen Marie Seiser (ätherisch spröde) gespiegelt (Kostüme: Ingo Krügler).
Ab der Hälfte spielen die Figuren dann Historientheater und kleiden sich in historischen Kostümen zur Live-Untermalung der Bühnenmusiker. Nötig wäre das nicht, denn den Text tastet Bieito nicht an, bleibt ganz nah an Tschechows lakonischer Komik zwischen Verzweiflung und geliebten Weltschmerz unter dem dicken Boden eines vollen Wodkaglases. Nur die Figuren entfremdet er zu Betonklötzen, die er zermalmt. Eine vielschichtige tragikomische Figur, wie sie Tschechow eigentlich immer anlegt, bleibt nicht. Dafür Baulärm, Dosenbier, Geschrei und kaputte Menschen.
Vielleicht spuckt Bieito selbst etwas lakonisch dem alten Russen hinterher und gönnt ihm keinen ruhigen Abgesang auf einen Kirschgarten, sondern reibt uns die Brösel des einfallenden Altbaus direkt und mit Gewalt sprichwörtlich unter die Nase.
Tschechow erlaubt das mit Abstrichen. Die Frage bleibt, ob dies sein Godunow am Nachbarhaus auch kann.
Regie Calixto Bieito; Bühne Rebecca Ringst;Licht Tobias Löffler; Kostüme Ingo Krügler; Dramaturgie Andreas Karlaganis; Sophie von Kessel Ljubow Andrejewna Ranjewskaja, Gutsbesitzerin; Marie Seiser Anja, ihre Tochter; Friederike Ott Warja, ihre Adoptivtochter; Manfred Zapatka Leonid Andrejewitsch Gajew, ihr Bruder; Guntram Brattia Jermolaj Alexejewitsch Lopachin, Kaufmann; Lukas Turtur Pjotr Sergejewitsch Trofimow, Student; Gerhard Peilstein Boris Borissowitsch Simeonow-Pischtschik, Gutsbesitzer; Ulrike Willenbacher Charlotta Iwanowna, Gouvernante; Thomas Gräßle Semjon Pantelejewitsch Jepichodow, Kontorist; Katrin Röver Dunjascha, Dienstmädchen; Jürgen Stössinger Firs, Diener; Franz Pätzold Jascha, ein junger Diener
Besucht wurde die Vorstellung am 29.01.2013
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