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Lesung Alexander Osang, 18.10.2019, Frankfurt

 Alexander Osang - Die Leben der Elena Silber ©Fischerverlage

Alexander Osang – Die Leben der Elena Silber
©Fischerverlage

Zu Beginn wurde Alexander Osang kurz vorgestellt. In seinen Büchern gelinge es ihm, vieles über die Wende und die DDR zu erklären, ohne dass es erklärend wirke. Er erzähle von den Menschen, lasse sie durch die Zeit reisen und vermittele so viel Wissen.Nach der Wende sei er viel gereist, habe u.a. in New York gelebt, derzeit in Berlin.

Sein neuester Roman Die Leben der Elena Silber umspanne das gesamte 20. Jahrhundert. Im Mittelpunkt stehe eine Frau, die jede Chance ergreift, um Russland zu verlassen. Elena Silber nehme die Hand eines Deutschen, auch wenn dieser nicht ihre große Liebe sei. Die Figur ist an Alexander Osangs Großmutter angelehnt.

Durch ihre Augen erleben die Leser Faschismus, Sozialismus und Kapitalismus, während Elena Silber keine Zeit habe, ihr eigenes Leben zu verstehen, durch das sie nicht unbeschadet komme. Ihr Enkel Konstantin sei interessiert an ihrer Lebensgeschichte, dessen Mutter wolle nichts dazu sagen, der Vater könne nicht mehr, weil er sein Gedächtnis verliere. Bei Tanten und Onkel verhielte es sich ähnlich.

Im Jahr 1905 lebt die junge Jelena Krasnowa in einer russischen Kleinstadt, 400 km östlich von Moskau. Sie muss miterleben, wie ihr Vater von Anhängern des Zaren erschlagen wird und die Familie fliehen muss.

Alexander Osang las mehrere längere Passagen aus dem Roman, sodass die Leser die junge Jelena Krasnowa kennenlernen, den letzten Tag eines Gerichtsprozesses miterleben und wie Jelena ihren späteren Ehemann verführt. Just an jenem Tag, an dem Lenin starb, so wird es Jelena später ihren Töchtern erzählen. In einer weiteren Lesung lernen die Leser (J)Elenas Enkel Konstantin kennen, einen nicht besonders erfolgreichen Buch- und Drehbuchautor, dessen Vater in das gleiche Pflegeheim soll wie zuvor die Großmutter.

Während Konstantin die Familiengeschichte aufschreiben will, eine Geschichte der Flucht und auch der heutigen Zeit, will seine Mutter nichts davon hören und auch nicht über die Vergangenheit sprechen.

Bei der Premierenlesung in Berlin konnte Alexander Osang nicht viel über die Bezüge zur eigenen Familiengeschichte sagen, weil sowohl seine Mutter als auch seine Schwiegermutter im Publikum saßen. Es sei auch deshalb schwierig, weil es nicht seine Geschichte sei und er keine Geheimnisse anderer verraten wolle, durch Informationen, welche Teile authentisch und welche erfunden seien.

Der Vater seiner eigenen Großmutter sei tatsächlich 1905 von Zarenhäschern hingerichtet worden und seine Großmutter habe einen starken russischen Akzent und eine Vorliebe für Mehlspeisen gehabt. Als Kind und Jugendlicher habe er die Erzählungen der Großmutter eher als Märchen wahrgenommen und erst später begriffen, dass viele der heutigen Spannungen in seiner Familie mit diesem Initialerlebnis zu tun hätten. Auch viele seiner eigenen Ängste hätten dort ihren Ursprung.

Jetzt sei gerade wieder ein Jahrestag des Mauerfalls, bei dem die Ostalgie blühen würde und die Ostler auf die Couch gelegt würden. Es werde analysiert, warum sie so seltsam seien. Er selbst gehe davon aus, dass ihn andere, frühere Dinge mehr prägten als die 25 Jahre DDR, die er erlebt. Die Biographie seiner Großmutter sei die einer ständigen Flucht.

Erinnern sei ein schwankender Untergrund und es sei auch ein Roman über das Erinnern und Vergessen. Der Stoff des Romans habe ihn schon länger beschäftigt, wenn auch sehr persönlich und vor fünf Jahren habe er mit der Arbeit daran begonnen. Es sei ihm lange alles als zu groß erschienen und so habe er kleinere Romane geschrieben, über die Verwerfungen der Wende und über seine Zeit in Amerika. Er habe viele russische Romane gelesen und wollte die Menschen und Landschaften sehen. Selbst erleben, wo sich seine Helden bewegen und wie kalt es dort wirklich im Winter ist, wie das Eis des Flusses aussieht und wie sich alles anfühlt. Deshalb sei er in den Heimatort seiner Großmutter gefahren, seltsamerweise als erster seiner Familie.

Bei einem Aufenthalt in Tel Aviv bot My Heritage kostenlose Gentests an und er war neugierig, wo die genetischen Wurzeln seiner Familie liegen, fest davon ausgehend, dass diese eindeutig russisch seien. Nach zwei Monaten habe er die Auswertung bekommen und seiner Gene 60% seien französischer Herkunft. Jetzt frage es sich, wo das russische Erbe sei.

Im Roman entdeckt Konstantin, dass die Großmutter Lebenslügen hatte, alle sehr verständlich. Sie habe damit gelebt und diese an ihre fünf Töchter weitergegeben. Deren deutscher Vater verschwinde in den Nachkriegswirren in relativ ungeklärten Umständen, vielleicht in den Westen, war er ein Nazi oder wurde er ermordet? Steckt er vielleicht in Südamerika, da gebe es viele Spekulationsmöglichkeiten.

Alexander Osang geht davon aus, dass alle Menschen sich Traditionspodeste bauen. Jeder würde sich entweder mit den Eltern identifizieren oder sich von ihnen distanzieren. diese Dinge hätten besonders der Nachkriegsgeneration beim Überleben geholfen. So gingen die Töchter von Elena Silber sehr unterschiedlich mit der Mutter und deren Erzählungen um. Die fiktive Familie hätte gut in Schlesien gelebt und musste dann plötzlichen den Heimatort und die Textilfabrik verlassen.

Er habe es selbst erlebt, wie schnell falsche Erinnerungen entstehen könnten. In den 1990er Jahren seit er für den Spiegel in den USA gewesen und hätte Erinnerungen an Dinge, die nachweislich so nie passierten, wie er neulich feststellte. Umso älter man werde, umso größer würden solche (falschen) Erinnerungen. Jelena wolle ihren Mädchen eine Familienkonstruktion geben und spiele mit den verschiedenen Möglichkeiten. Die Risse dazwischen kitte sie mit erfundenen Begebenheiten. Im Roman würden die Männer irgendwie alle verschwinden und auch Konstantin wirke nicht besonders stabil. Irgendwie sei es ein Roman starker Frauen stelle Alexander Osang fest. Es sei die Geschichte vieler Menschen. Sein Großvater liege in Russland, sei dort hingerichtet worden. Später habe die deutsche Wehrmacht Millionen Russen ermordet. Es falle ihm schwer, Wut oder Stolz zu empfinden.

Alexander Osang sei in einem sozialistischen Land großgeworden, das sehr stark durch die Sowjetunion geprägt wurde. Ziel seines Romans und der Arbeit daran sei gewesen zu untersuchen, wie ihn dies geprägt habe, nicht Familiengeheimnisse herauszubekommen. Während seines Aufenthaltes in Russland wollte er die Landschaften und Umstände erforschen, hätte er dort zu viel über seine Großmutter herausgefunden, hätte sie ihm später beim Schreiben im Weg gestanden. Natürlich sei jedoch aus jeder beantworteten Frage eine neue entstanden.

Über das Erscheinen des Buches sei er sehr erleichtert, jetzt sei dieses große und emotionale Projekt für ihn abgeschlossen und als nächstes wolle er eine kleine Novelle schreiben.

Für ihn persönlich sei der prägendste Einfluss von 25 Jahren DDR auf die Familiengeschichte seine eigene Ruhelosigkeit, Misstrauen gegenüber dem Staat. Der Einfluss seiner Familiengeschichte seien ein Gefühl der Entwurzelung und seine Umtriebigkeit, ein Drang durch die Welt zu reisen. Er habe festgestellt, dass er am glücklichsten sei, wenn er reise.

Nach der Veranstaltung beantwortete Alexander Osang beim Signieren noch geduldig Fragen der zahlreichen Zuschauer.

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